Zukunft denken! Können wir das?

Der Zustand des »Waldnationalparks Harz«: Der viel besungene Deutsche Wald ist keine Kohlenstoffsenke mehr. Er ist zur CO2-Quelle geworden. Selbst Opfer der Klimakrise heizt er den Klimawandel jetzt an. Nichts ist’s mit Nachhaltigkeit im Forst. | Foto: Wolfgang Kramer

Heute geht es in diesem Blog um die ganz großen Dinge. Die gescheiterte Klimakonferenz von Baku ist der aktuelle Aufhänger, wenn auch nicht der Anlass für die grundsätzliche Frage, ob wir Menschen überhaupt in der Lage sind, Zukunft zu denken. Diese Frage stellt sich immer dann, wenn von den diversen Krisen die Rede ist, die wir durch unser Handeln herbeigeführt haben. Können wir überhaupt ermessen, was wir mit unserem heutigen Handeln in der Zukunft anrichten? Sind wir in der Lage, unser Wissen über die Welt, das noch nie so umfassend war, wie es heute ist, in verantwortliches Handeln für die Zukunft umzusetzen?

Einzelne Menschen können das. Wir sind ständig am Planen. Familie, Arbeit, Rente, Erbe, ja selbst das Einkaufen erfordert Planung. Dieser Podcast hieße nicht »Führerschein für Einkaufswagen«, wenn nicht auch ich der Ansicht wäre, dass jede und jeder von uns planvoll und sinnvoll handeln kann. Einzelne Menschen können das, aber kann das auch die Menschheit?

Entgrenzter Mensch

Das ist die große Frage, der ich heute ein wenig nachgehen möchte. Als Gesprächspartner habe ich mir dafür Kersten Reich eingeladen. Er ist Lernforscher, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik der Universität Köln und hat in den letzten Jahren sehr viel zum Thema Nachhaltigkeit gearbeitet.

Herausgekommen ist dabei unter anderem das zweibändige Werk »Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde«. Band 1 handelt davon, weshalb Erziehung und Verhalten die Nachhaltigkeit erschweren, Band 2 davon, wie Ökonomie und Politik sie verhindern. Erschienen übrigens im gleichen Verlag wie meine Bücher. So haben wir uns dann auch kennengelernt.

Hier folgt das für diesen Blog transkribierte und etwas gekürzte Gespräch mit Kersten Reich – anzuhören im gleichzeitig erschienenen Podcast.

Ein Gespräch übers Lernen

?          Dass einzelne Menschen lernfähig sind, ist klar. Das weiß man, das weiß ich. Aber wie ist es mit größeren Kollektiven? Da habe ich schon so meine Bedenken. Wie funktioniert da Lernen? Vereinbart man das miteinander? Macht das jeder Einzelne oder wie funktioniert das?

!           Du bist schon optimistisch mit dem einzelnen Menschen, dass er lernfähig ist. Lernfähig und lernen − das sind ja im Grunde zwei Dinge. Also der Mensch ist so gebaut, von seiner Wahrnehmung, von seinem Gedächtnis, von all dem her, was er kann − kognitiv, emotional, auch sozial − dass er im Grunde immer lernen muss. Wir sind also quasi evolutiv verpflichtet, zu lernen, sonst könnten wir nicht überleben. Ich sage da immer sehr einfach: Es ist nicht möglich, nicht zu lernen. Was man im Einzelnen dann aber tatsächlich aus dem Lernen herausnimmt und für sich gewinnt, das können sehr unterschiedliche Dinge sein. Die sind natürlich erstmal abhängig von der Kultur, in der man lebt. Und dann, kleiner gedacht, vom Elternhaus oder den Bezugspersonen, mit denen man groß wird. Die eigene Sozialisation definiert, wie deine Lernfähigkeit genutzt wird, um sie mit Inhalten zu füllen und dich dann auch entsprechend auszubilden. Was du emotional befürwortest und kannst und willst, und was du kognitiv aufnimmst, sozusagen als Erklärung der Welt, die dich umgibt.

Das wäre erstmal eine grundlegende Unterscheidung. Und wenn wir die haben, dann können wir zum Kollektiven gehen. Und du siehst, schon in der ersten Erklärung ist das Kollektiv mit drin. Das heißt deine Eltern oder die Bezugsgruppen, mit denen du zu tun hast, die Milieus, wie es heute heißt. In früheren Gesellschaften war es eigentlich eher die Gesamtgesellschaft, die einen starken Druck auf den Einzelnen ausgeübt hat, in den Herrschaftsverhältnissen. Das hat sich heute verändert hin zu vielen Milieus, die parallel zueinander existieren und die bestimmen, was der Mensch aus seinem Lernen für Erkenntnisse und für Verhaltensweisen zieht.

Wir lernen immer, aber nicht für die Zukunft. Wir sind im Hier und Jetzt sehr gut un innovativ, nicht aber wenn es um die Planung von Zukunft oder um die Folgen unseres Handelns geht: Lernforscher Kersten Reich. | Foto: privat

Zum Lernen gezwungen

?          Das erste bezieht sich darauf, dass wir lernen müssen, einfach weil wir uns anpassen müssen an die Gegebenheiten, die sich verändern. Das ist das Evolutionäre?

!           Ja, weil wir nur sehr schwache Instinkte haben. Natürlich haben wir welche. Wir haben instinktive Bevorzugungen, beispielsweise in der Sexualität, aber die sind dann überformt durch das, was wir gelernt haben und was die Kultur uns anbietet. Also relativ instinktarm sind wir, und deshalb sind wir auf das Lernen angewiesen, um uns in unserer Umgebung zu orientieren, zurechtzufinden und zu handeln.

?          Das ist aber erst mal eine ganz gute Voraussetzung, oder?

!           Ja, eigentlich ist das prima, weil wir damit eine große Breite an Möglichkeiten haben. Wir können wunderbar reagieren. Ich will mal ein Bild geben: Das ist, glaube ich, sehr grundlegend, um zu verstehen, warum Menschen auch so unterschiedlich sind. Der französische Sozialhistoriker Fernand Braudel hat den Einfluss der Umgebung, der Orte auf das Verhalten von Menschen untersucht. Er hat zum Beispiel die Küstenregion um Barcelona untersucht und hat dann festgestellt, dass bestimmte Regionen einfach unheimlich aufgeschlossen sind. Die Menschen sind aufgeschlossen, sie handeln vielfältig. Ich wohne in Köln, da ist es ähnlich aufgeschlossen, weil sehr viel Interaktion stattfindet und die Menschen viel untereinander tun. Dagegen gibt es Regionen in abgelegenen Zonen der Gebirge, wo die Menschen sehr verschlossen, sehr konservativ, sehr beharrend sind, sozusagen im Fels ruhend. Mein Großvater kommt aus dem Berner Oberland, da habe ich das persönlich kennengelernt. Das ist das genaue Gegenteil zu Köln oder Barcelona.

Also wir sind von den Orten geprägt, an denen wir aufgewachsen sind, und auch von dem Klima dort. Und das bestimmt auf lange Sicht unser Verhalten. Das merken wir aber gar nicht mehr. Die »longue durée« nennt Fernand Braudel das, die lange Dauer. In der langen Dauer ist der Mensch gar nicht gefragt, etwas zu ändern.

Lange Prägung – kurzes Gedächtnis

!           Wenn wir das auf den Klimawandel übertragen, erkennen wir das Muster: Menschen nehmen das Klima hin, weil sie es ja nicht ändern können. Das Komische ist nun: Der Mensch hat den Klimawandel verursacht und dann aber diese Verursachung vergessen. Und er vergisst sie auch ganz leicht, weil er ja, wenn die Erhöhung der Temperaturen einmal eingetreten ist, das nicht mehr ändern. Das sind Dinge, die wir aufgrund unserer evolutionären Prägung vernachlässigen.

Davon unterschieden ist dann die mittlere Dauer. Das sind die Epochen, die Zeiten, die Konjunkturen, in denen wir leben. Also die Geschichte. Und da fällt auch auf, dass wir in der mittleren Dauer relativ nachlässig mit der Welt umgehen. Schon da sinkt unsere kollektive Lernfähigkeit. Denken wir nur daran, dass ungefähr alle siebzig Jahre der Krieg vergessen ist und schon wieder der Machtkampf und das Kriegerische beginnt. Das ist ein bekanntes Phänomen. Das heißt, selbst nach Katastrophen durch Kriege ist man dann auf einmal wieder bereit, militärisch zu denken oder sich mehr in Kriegszuständen zu engagieren.

Aber wir leben natürlich tagtäglich in der Ereignisdauer, also dem, was uns tatsächlich jetzt konkret umgibt, in dem Druck, den wir haben, unser Leben zu bewältigen. Was wir tun müssen, um zu bestehen, miteinander auszukommen, Glück zu finden oder Pech zu haben. Was auch immer da passiert, diese Grundereignisse, die prägen eigentlich unser Denken und Handeln massiv und auch unsere Psychologie und unser Verhalten.

Und das ist genau ein Problem, weil viele Lösungen für die Nachhaltigkeitskrise finden wir ja nur, wenn wir über die lange Dauer nachdenken. Wenn wir erkennen, dass das, was in der langen Dauer schlummert und steckt, dass wir das beachten müssen, dass wir da nicht Fehler machen dürfen durch kurzfristiges Handeln, indem wir die lange Dauer so verändern, dass wir dann keine Möglichkeit mehr zur Reaktion haben. Und das fällt Menschen wahnsinnig schwer, weil die lange Dauer nicht im Fokus unserer Wahrnehmung und unseres Denkens ist.

Evolutionärer Ballast

?          Da haben wir einen evolutiven Knick?

!           Ja, im aktuellen Ereignis sind wir ganz schnell in der Reaktion auf sich verändernde Situationen. Schneller auch als andere Wesen der Tierwelt, weil wir nicht instinktgebunden sind. Das macht uns stark. Das macht uns auch innovativ und kreativ. Aber wir vernachlässigen gerne dabei, was das in der langen oder mittleren Dauer bedeutet.

Ein schönes Beispiel dafür ist der Populismus. Der ist menschheitsalt, den gibt es immer schon. Und wir wissen eigentlich aus historischen Erfahrungen, wie schädlich er ist. Dennoch kommt er immer wieder zur Geltung, weil wir in der Ereignisdauer der Gegenwart darin eine Lösung sehen, und weil wir die mittlere Dauer auch schon vergessen haben. Also nicht nur die lange Dauer, wie den Klimawandel, den wir erzeugt haben, oder sagen wir auch Naturereignisse, die wir auch verdrängen. Wir stehen ja sowieso in der Naturgewalt. Irgendwann stürzt die Erde in die Sonne. Aber das ist so lange hin, dass ist fern von unseren geistigen Horizonten.

Aber in der mittleren Dauer müssten wir eigentlich viel mehr reflektieren. Und auch das tun wir nicht. Deshalb kann der Populismus wiederkehrend in der Geschichte der Menschen auftreten, oder auch andere historische Ereignisse.

Es ist schon erschreckend zu sehen, wie verblödet die Menschheit in der Ereignisdauer letztlich handelt. Durch Social Media und diese ganze Bespiegelung der eigenen Psyche noch gefördert und auch dazu verleitet, so zu denken. Da kommt natürlich dann auch noch die soziale Gruppe hinzu. Wenn das mehrere tun, dann ist es gleich umso erfolgreicher.

Kollektives Handeln

?          Wenn wir jetzt versuchen wollen, doch zu einem nachhaltigen kollektiven Handeln zu kommen − und das willst du ja, ich meine, sonst würdest du nicht Bücher schreiben, die heißen »Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde« oder »Das nachhaltige Manifest«. Lasst uns den Planeten retten.« Wenn wir jetzt zu einem kollektiven Handeln kommen wollen, das die lange Dauer im Blick hat, also die Klimakatastrophe, die wir angezettelt haben: Wie kommen wir denn da raus aus unseren Lernunfähigkeiten oder Blickunfähigkeiten? Wir sehen es ja einfach nicht. Wie können wir es denn für uns sichtbar machen?

Wer über die Zukunft nachdenkt, landet leicht in der Vergangenheit, aus der wir nicht viel gelernt haben. Kersten Reich sagt, wir brauchen eine neue Aufkkärung. Immanuel Kant – hier im Kreise seiner Tischgenossen – sagte: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« | Gemälde von Emil Doerstling

!           Na ja, wir beide sehen es ja jetzt. Es müssen halt einfach mehr Menschen sehen. Das Sehen alleine hilft allerdings nicht unbedingt beim Handeln. Das merke ich auch an mir: Ich versuche möglichst nachhaltig zu handeln, aber es gelingt mir ja auch nicht in jedem Moment, weil die Umwelt es nicht immer erlaubt oder ich vielleicht manchmal auch zu bequem bin. Das kommt ja dann noch hinzu. Aber Überzeugung kannst du natürlich nur gewinnen, wenn du einzelne Menschen erreichst und die einzelnen Menschen dann ihrerseits wieder zur Vervielfältigung beitragen. Und das macht im Grunde ja auch eine Aufklärungsbewegung aus. Im Grunde muss ich sagen: So wie das Zeitalter der Aufklärung uns aufgeklärt hat, dass wir aus dem Absolutismus herauskommen und mehr Demokratie wagen, so etwas ist auch mit der Nachhaltigkeit erforderlich. Im Grunde in allen Vernunftbereichen, wo wir auch die longue durée achten sollten oder auch die mittlere Dauer stärker im Blick haben sollten. Es geht nur über Aufklärung und dann kann man nur hoffen, dass die Vernunft ausreicht, tatsächlich auch die eigene Bequemlichkeit und die Emotionen mit in den Griff zu nehmen.

Das ist dann die zweite Frage. Aber die kommt ja erst, wenn die erste Frage gelöst ist. Also ohne Aufklärung wird gar nichts funktionieren und das macht meinen Optimismus aus. Ich bin aufgeklärt groß geworden. Das versuche ich weiterzugeben. Das ist zurzeit wahrscheinlich eher nicht erfolgreich, aber es wird vielleicht wieder eine Zeit kommen, wo eine Aufklärungsbewegung stärker ist. Es gibt sie ja auch noch. Die Nachhaltigkeitsbewegung ist ja da. Aber sie muss schon sehr massenhaft auftreten, damit sie zu Erfolgen führt.

Vom Wissen zum Handeln

?          Die Frage ist ja grundsätzlicher Natur: Wie entsteht Handeln aus der Erkenntnis? Wir leben in einem Zeitalter, wo wir so viel wissen, wie wir noch nie als Menschheit gewusst haben. Alle Daten liegen vor. Wir generieren ständig neue dazu. Das heißt, das Wissen wird immer komplexer und es wird immer klarer, dass wir so nicht weitermachen können, wie wir bis jetzt gelebt haben. Das hilft uns aber nicht, weil das auf der anderen Seite womöglich auch Verzicht bedeutet, und Verzicht ist nicht gewollt. Es hat ja mehrere Versuche gegeben, uns klar zu machen, dass wir in eine wunderbare rosafarbene Zukunft gehen, wenn wir mit der Ökonomie anders umgehen, wenn wir nicht ständig Wachstum wollen, sondern wenn wir uns zufriedengeben. Aber wir geben uns nicht zufrieden.

!           Das entspricht ja unserer Ausstattung. Wenn du das menschliche Gehirn betrachtest und die Wirkungsweisen, die mittlerweile recht gut erforscht sind ­– dazu gibt es gute Analysen. Zum Beispiel Daniel Kahneman, der dieses »Thinking, Fast and Slow« in seinem Buch beschrieben hat. Er unterscheidet zwei Systeme in unserem menschlichen Bewusstsein. Das System eins ist intuitiv und emotional auf Wünsche orientiert, auf Impulse, aufs Bauchgefühl. Da reagieren wir sehr schnell. Du gehst durch die Straße und siehst jemanden, und auf Anhieb ist die Person dir sympathisch oder weniger sympathisch. Das passiert immer wieder automatisch. Dieses System eins ist allerdings etwas, was wir mit Aufklärung alleine nicht erreichen. Das geht aber mit dem System zwei, der Kognition, der rationalen Seite. Die kalkuliert Kosten und Nutzen, die kalkuliert auch im Grunde sprachlich logisch. Die will das, was du auch forderst in der Nachhaltigkeit: Vernünftige Argumente, die uns überzeugen und unser Verhalten leiten. Das ist aber eher die langsame Denkweise.

Manche übertreiben das Rationale auch − und die Deutschen gehören in meinen Augen dazu. Das sieht man schon an überfrachteten Lehrplänen und langen Schulzeiten. Damit unterschätzen wir dann das Emotionale und das Zusammenwirken der beiden Denkweisen. Warum ich zum Beispiel Müll trenne, kann ich wunderbar darlegen. Das kannst du auch in der Schule unterrichten. Die Schülerinnen verstehen das alle sofort. Aber ob sie es dann emotional tatsächlich tun im Handeln, das hängt wieder davon ab, wie sie sich dabei fühlen, ob sie sich angesprochen und motiviert fühlen. Da prüft sich dann das rationale System im emotionalen. Das ist einerseits etwas, was wir alle schätzen sollten, das ist auch in der Liebe beispielsweise so, aber es ist andererseits natürlich auch problematisch, wenn es so ausdeutbar ist, wenn es so viele Varianten gibt und Ausreden und Vermeidungsstrategien, auch Verleugnungsstrategien, um seine Bequemlichkeit zu erhalten. Denn das Bequeme ist natürlich auch etwas, was den Menschen mit ausmacht, die Energie, die er in Situationen verausgabt, emotional und rational, die spielt ja auch immer eine große Rolle. Und das alles zusammengenommen macht uns eben zu sehr komplizierten Wesen. Für die Nachhaltigkeit sind wir damit eigentlich nicht so ganz toll ausgerüstet.

Hannß Carl von Carlowitz, der Erfinder dar Nachhaltigkeit, wie er an einer Hauswand im sächsischen Freiberg geehrt wird – und sein berühmtes Buch »Sylvicultura Oeconomica«, das die Forstwissenschaft begründete und 1713 auf der Leipziger Buchmesse ein Bestseller war. | Fotos: Wikipedia

Denkwende

?          Wobei die Nachhaltigkeit ja auch eine deutsche Erfindung ist und eigentlich aus der Ökonomie kommt. Hannß Carl von Carlowitz war der oberste Bergmann des sächsischen Kurfürsten. Und er hat gesehen, dass zu wenig Holz da war, um weiter Bergbau zu betreiben. Also hat er gesagt: Wir müssen Bäume nachpflanzen, wenn wir welche fällen. Das ist ja dessen Begriff von Nachhaltigkeit.

!           Kommt aber eben auch aus dem Wald. Und Menschen, die im Wald arbeiten oder im Wald groß werden, haben natürlich eher auch die longue durée, also die lange Dauer vor Augen, oder mindestens die mittlere, weil so ein Wald ja siebzig, achtzig Jahre braucht, bis er wächst. Da kannst du nicht mit dem kurzfristigen Ereignishorizont kommen, mit dem heute die Produkte alle ersetzt und neu verkauft werden. Mit diesem Turbokapitalismus, der das Leben von uns heute sehr stark bestimmt, kannst du im Wald nicht agieren.

Damit kommen wir nochmal zu unserem Anfang zurück: Wir sehen, wie eine Umgebung oder eine Tätigkeit auch das eigene Denken und Handeln prägen kann. Ich glaube, wir brauchen in unserer Kultur eine Rückkehr zu solchen Handlungen und Denkweisen und auch Berufen, die in der langen Dauer verankert sind, damit wir auch deutlicher sehen, was wir in kurzen Ereignissen alles anrichten an Schäden.

Der Müll zum Beispiel, den wir verursachen, ist ja grenzenlos. Oder das Artensterben. Das wird so maßlos unterschätzt in der heutigen Debatte. Für uns wird das ein ganz grausames Ereignis werden, wenn weniger Arten da sind, weil damit dann bestimmte Krankheiten exorbitant ansteigen werden, weil es keine natürlichen Feinde mehr gibt, keinen Ausgleich mehr in der Natur. Das sind über Jahrtausende und Jahrmillionen gewachsene Systeme. Und wenn der Mensch durch sein Handeln da so rigide eingreift, verändert er etwas, das seine eigene Existenz bedroht.

Staatskapitalismus

?          Wenn wir noch mal zurückkommen zur Ökonomie, weil Nachhaltigkeit ja wie gesagt ein Wort aus der Ökonomie ist. Wenn wir längerfristig ökonomisch denken, würde das dann zum Beispiel auch bedeuten, weniger Aktiengesellschaften und stattdessen mehr Familienunternehmen zu fördern, denn Familienunternehmen denken ja an die nächste Generation. Die wollen ja etwas vererben, da soll etwas bleiben. Wäre das der bessere Weg der Ökonomie?

!           Es wäre wünschenswert. Nur die großen Player sind mittlerweile im Grunde staatsmonopolistische Apparate. China pflegt heute einen staatsmonopolistischen Kapitalismus, wie er in der deutschen Studentenbewegung mal in den 70er Jahren diskutiert wurde. Also ein Staat, der den Kapitalismus so lenkt und leitet, dass er monopolistisch alles organisiert, damit kapitalistisches Wachstum nur im Sinne der Partei und der eigenen Bestrebungen stattfindet. Das ist eine sehr erfolgreiche Form geworden und viele autokratische Systeme versuchen, dem jetzt nachzueifern, siehe Russland mit Putin. Oder mit Bolsonaro in Brasilien hat es solche Versuche gegeben und es gibt sie weltweit. Trump ist ja nicht anders. Mit seinen Zöllen geht er genau solch einen Weg.

Aber der Versuch wird nicht von Dauer sein. Der Kapitalismus hat seine eigenen Verwertungsschwierigkeiten. Wenn jetzt eine Gruppe von Oligarchen wie Trump und andere, meinen, die Welt so führen zu müssen, dass sie ihren Reichtum immer mehr vergrößern, dann muss ja irgendeine Masse das bezahlen. Und das wird dann wieder zu Verwerfungen führen.

Es gibt in diesem Ereignishorizont, den wir eben besprochen haben, dieser schnellen Dauer, keine Stabilität. Da wird alles immer wieder flüchtig werden und sich auch immer wieder gegeneinanderstellen. Auch der Versuch des Populismus und der Autokratien wird natürlich Gegenströmungen erfahren. Das hoffe ich zumindest.

?          Du denkst, die Menschen werden das in Kürze satthaben und sich woanders hinwenden?

!           Das Problem dabei ist: die kurzfristige Dauer führt zu keinem Fortschritt. Dann wird das eine durch das andere ersetzt und vielleicht der eine Populist durch einen anderen abgelöst. Was wir bräuchten, wäre eigentlich eine Aufklärung in der breiten Masse, die uns mehr in die mittlere Dauer und ihre Reflexionen bringt. Also Geschichte zu überlegen und sich zu fragen, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Damit wir nicht die gleichen Fehler immer wieder machen. Und dann vor allem die lange Dauer zu beachten und zu fragen: Was zerstört uns?

Typisches Beispiel: Jetzt in der Energiekrise in Deutschland kommen Parteien wieder auf die Idee, Atomkraft zu favorisieren, ohne zu bedenken, dass wir die Endlagerung überhaupt nicht im Griff haben. Das heißt, dass wir in der langen Dauer etwas erzeugen, was keiner kontrollieren kann Es zerfällt erst in Jahrtausenden und ist bis dahin eine Bedrohung für die Menschen der Zukunft. Das interessiert aber keinen. Die lange Dauer interessiert einfach einen Dreck. Das ist ein Beispiel dafür, dass ansonsten rational argumentierende Parteien an dieser Stelle völlig versagen, weil sie gar keinen Blick auf die lange Dauer haben.

Was ist Aufklärung

?          So, jetzt könnte man dann zitieren: Was ist Aufklärung? Und dann würde man eigentlich wieder da ansetzen, wo im 18. Jahrhundert schon mal angesetzt worden ist.

!           Da waren kluge Ideen dabei, das ist keine Frage. Der Fehler vielleicht in der Aufklärungsbewegung war immer, dass sie das Rationale übertrieben haben, dass sie dachten, alles mit Rationalität lösen zu können. Das zeigt sich dann im Verlauf der Geschichte: das klappt nicht. Also muss auch das Emotionale mitbedenken. Und das ist ja das, was wir konkret auch in der Nachhaltigkeitsdebatte jetzt immer wieder erleben oder im Erfolg von Nachhaltigkeitsstrategien, dass sie nur dann klappen, wenn man die Menschen auch tatsächlich da erreicht, wo sie stehen, also ihnen eine Anregung gibt, wie sie sich im Verhalten ändern können, ohne dass sie dabei gleich untergehen.

Ich nehme mal das Heizungsgesetz, was dem armen Herrn Habeck um die Ohren geflogen ist …

?          Das heißt eigentlich Gebäudeenergiegesetz und stammt aus der Ära Merkel …

!           Genau, das ist uralt und eigentlich steckt ein ganz vernünftiger Gedanke dahinter. Rational, muss man sagen, müssten alle Menschen einsehen: Ja, das brauchen wir! Wir können ja nicht immer weiter CO2 ausstoßen, und fossile Energien treiben uns in den Untergang. Der Klimawandel wird dann immer stärker. Wir sind jetzt ja schon bei über 1,5 Grad. Wir sind mindestens auf dem drei Grad-Pfad, wenn nicht bis Richtung sechs Grad, wenn es gar nicht gestoppt wird. Und das ist ziemlich der Untergang für die Menschheit. Aber das ist wieder in der langen Dauer gedacht.

Kleine Schritte

!           Jetzt muss man aber, wenn man so ein Gebäudeenergiegesetz durchsetzen will, den Menschen auch anbieten, wie es für sie persönlich gelingen kann. Man darf nicht den Ärmsten aufbürden, die Heizkosten überwiegend allein zu tragen, oder die Netzentgelte so exorbitant aufrüsten, weil der Staat über Jahrzehnte dabei versagt hat, eine Grundinfrastruktur bereitzustellen. Da gibt es politische Stellschrauben. Ich glaube, die Menschen zumindest in Deutschland würden darauf reagieren, wenn man da in kleineren Schritten und mit überzeugenden Argumenten vorgeht. Das würden viele dann doch verstehen und nicht in die Wut übergehen.

Die Klimakatastrophe wird ihren zunehmend heftigeren Verlauf nehmen. Das 1,5 Grad-Ziel haben wir schon gerissen. Sind dann hier noch kleine Schritte möglich, um voran zu kommen? | Foto: Pixabay

?          Jetzt komme ich doch noch mal mit dem Zitat von Immanuel Kant, der gesagt hat, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und wenn das der Ausgang ist, dann beginnt er nach dem, was du eben gesagt hast, mit kleinen Schritten. Gründest du darauf deinen Optimismus?

!           Ja, ich glaube schon, dass man mit vernünftigen Argumenten noch etwas erreichen kann. Und ich erlebe das ja vor allen Dingen auch bei jüngeren Menschen. Als Universitätsprofessor habe ich das über Jahrzehnte erlebt, wie gerade Studierende sehr interessiert waren an aufklärerischen Gedanken und auch überhaupt an rationalen Lösungen. Und wir haben ja auch in einigen Bereichen durchaus vernünftige und akzeptable Lösungen gefunden in der mittleren Dauer unserer Geschichte. Das ist ja keine Frage. Die Demokratie ist zum Beispiel eine dieser Erfindungen, die uns helfen können, eine Balance zu finden zwischen all den Milieus und den Unterschieden und den Wünschen und den verschiedenen Charakteren, die in der Menschheit ausgeprägt sind. Meine Sorge ist, dass gerade das, was wir da so positiv erreicht haben, sehr schnell verloren gehen kann.

Große Aufgaben

!           Die Klimakrise wird sich ja zunehmend verschärfen, die Sturzbäche und Waldbrände sind nur der Anfang. Das wird alles noch mal viel massiver werden, so wie wir uns gerade bewegen. Dann kommt es womöglich wieder zu immer neuen kurzfristigen Lösungen und das wäre, glaube ich, genau der falsche Weg.

Wir brauchen langfristige Lösungen und erstmal muss dieser CO2-Ausstoß runter. Das ist ein absolutes Muss. Es wäre wirklich ein Verrat an der Menschheit, da nicht viel stärker zu arbeiten. Und wenn ich mir jetzt die letzte COP 29 ansehe, also diese Weltklimakonferenz, das ist ein zusammengesetzter Kreis von Interessengruppen, bei denen die Öl- und Gasmultis stark vertreten sind − und die vertreten eben ihre Interessen. Die Gastgeberländer waren führend in den letzten Jahren aus dieser Gruppe. Und dass man denen da so eine Stimme gibt und dass die Politik in der Welt da nicht viel stärker gegensteuert und sagt: Nee, wir reden jetzt über die lange Dauer, da können wir nicht die mit den kurzfristigen Gewinnen als rationale Ratgeber einsetzen. Das wird einer der Schlüssel sein, an dem sich entscheidet, ob wir es noch hinkriegen oder nicht.


Bis hierhin das Gespräch mit Kersten Reich. Nachzuhören in ganzer Länge im Podcast.

Wenn wir es tatsächlich nicht schaffen, die kurzfristigen Interessen zu überwinden, oder ganz geradeaus gesagt: Wenn wir es nicht schaffen, die fossile Industrie und ihren ganzen Lobbyzirkus aus der Zukunftsplanung heraus zu drängen, dann wird es diese Zukunft nicht geben. Höre ich jetzt jemanden sagen: »Wir schaffen das!« Es müsste nicht eine oder einer sein, es müsste ein ganzer gewaltiger Chor sein, jede und jeder für sich und alle gemeinsam. Dann könnten wir es schaffen.


P.S. Der nächste Blog nicht wie üblich im nächsten Monat, sondern erst am ersten Donnerstag im Februar – nach einem Monat Winterschlaf.