Rund 45 Millionen männliche Küken werden in Deutschland jedes Jahr sofort nach dem Schlüpfen entsorgt, weil sie das falsche Geschlecht haben. Sie sind die Brüder der Legehennen, können aber eben keine Eier legen. Sie aufzuziehen wie Masthähnchen lohnt sich nicht, weil sie schlechte Futterverwerter sind. Also werden sie vergast und weggeworfen. Dagegen wehrt sich seit Jahren die Bruderhahn Initiative. Ihre Geflügelzüchterinnen ziehen die Hähnchen auf und treiben damit eine grundlegende Veränderung in der Geflügelzucht an, die jetzt vor dem Durchbruch steht.
[nebenbei: Gendersternchen zum Einfügen an gewünschter Stelle: *****]
In rund zwei Jahren soll es soweit sein: dann werden in Deutschland keine Küken mehr mit Kohlendioxid vergast und geschreddert. So sieht es ein Gesetzentwurf aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium vor, der in das Tierschutzgesetz schreibt, was dort eigentlich schon drinsteht, dass sich nämlich strafbar macht, wer „ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet“. Das Tier essen zu wollen gilt als vernünftiger Grund, es zu töten, um es wegzuwerfen, eigentlich nicht. Bislang war es allerdings so, dass diese Küken per Ausnahmeregelung doch getötet werden durften und deutsche Gerichte das regelmäßig als rechtens beurteilt haben, weil eine Aufzucht der Hähne aus den Legehennenlinien wirtschaftlich nicht zumutbar sei. Jetzt soll in das Tierschutzgesetz ein neuer Paragraph 4c eingefügt werden, der bestimmt, dass es verboten ist „männliche Küken der Gattung Haushuhn, die aus Zuchtlinien stammen, die auf die Legeleistung ausgerichtet sind, zu töten“. Hat die Bruderhahn Initiative, die die Brüder der Legehennen aufzieht, statt sie wegzuwerfen, also auf ganzer Linie gesiegt? Leider nicht. Aber sie hat für eine Diskussion gesorgt, die jetzt erst richtig Fahrt aufnehmen wird.
Der siebte Tag
Die Antwort der Agrarindustrie auf die Kritik am Wegwerfhähnchen ist nicht die Aufzucht der Hähne, sondern eine neue industrielle Technik. Mit der Geschlechtsbestimmung schon im Ei wollen die Brütereien in Zukunft den Schlupf, also die Geburt der Hähnchen vermeiden. Stattdessen werden die Embryonen entsorgt. Es geht also, um das mal klar zu benennen, um massenhafte Abtreibung statt um Kindsmord. Dazu werden die Eier mit einem Laser geöffnet und – so das Embryo weiblich ist – wieder verschlossen und zurück in die Brutmaschine gelegt. Die männlichen Embryonen werden „nicht weiter bebrütet und können verarbeitet werden, zum Beispiel als Futtermittel oder für die technische Industrie“. So erklärt das ein Animationsfilmchen des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Die Technik soll bis Ende 2021 serienreif sein und dann spätestens bis zum sechsten Tag, nachdem das Ei gelegt wurde, das Geschlecht bestimmen können. Entsprechend steht dann auch im Referentenentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes, dass es verboten sein soll „ab dem siebten Bebrütungstag Eingriffe an einem Hühnerei vorzunehmen, die bei oder nach der Anwendung von Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei durchgeführt werden und den Tod des Hühnerembryos herbeiführen oder zur Folge haben“. Womit implizit auch schon gesagt ist, was vor dem siebten Tag bei der Anwendung der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung passieren kann: die Technik kann den Tod des Hühnerembryos „zur Folge haben“, auch ungewollt. Damit werden dann wohl auch künftige Legehennen „verworfen“, wie das in der Züchtersprache heißt. Was bedeutet, dass noch mehr Eier bebrütet werden müssen, um den Verlust wettzumachen, und also noch mehr männliche Embryonen aussortiert werden.
Die Geschichte funktioniert als Parabel: Wenn die Agrarindustrie eine Lösung für ein von ihr selbst geschaffenes Problem entwickelt, entsteht meist ein neues Problem.
Henne und Ei
Im Falle der Wegwerfküken ist die Henne das Problem des Eis. Und diese Henne stammt meist aus Cuxhaven. Dort sitzt Lohmann Tierzucht, weltweiter Marktführer bei der Zucht von Legehennen. Dort wurden viele Jahre und viele Millionen in die Zucht der perfekten Legehennen gesteckt. Eine Hochleistungshenne der Linie „Lohmann Selected Leghorn Ultra Lite“ frisst täglich höchstens 110 Gramm Futter und legt dafür ein 60 Gramm schweres Ei. Diese Tiere sind allerdings dermaßen „lite“, dass sie sich für die Freilandhaltung nicht eignen. Dafür gibt es zum Beispiel „Lohmann Brown“. Das sind die braunen Hennen, deren ebenso braune Eier wir auch aus dem Biomarkt kennen. Auch diese Tiere sind auf die rein weiblichen Merkmale gezüchtet. Sie fressen etwas mehr, legen aber auch an durchschnittlich fünf von sieben Wochentagen ein Ei. Das sind fast doppelt so viele Eier wie sie Geflügelhalterinnen von einer der alten Hühnerrassen erwarten dürfen. Dafür stecken die Hühner aber auch ihre ganze Lebenskraft ins Ei. Für sie selbst bleibt da nicht mehr viel Substanz. Mit der Konzentration auf die Eierproduktion bei den Legehennenlinien und auf die Fleischproduktion bei den Masthähnchen verschwand das ehemalige Zweinutzungshuhn, das Eier legte, aber auch Fleisch produzierte. Moderne Legehennen taugen am Ende ihres Lebens kaum mehr als Suppenhuhn. Und auch die Hähne aus diesen Linien wollen und wollen nicht zunehmen.
Bruderhahn
Als der Demeter-Geflügelzüchter Carsten Bauck mit einigen Gleichgesinnten in Norddeutschland vor acht Jahren die Bruderhahn Initiative gründete und damit begann, die Brüder der Legehennen aufzuziehen, wussten alle Beteiligten, dass das ein Zuschussgeschäft wird. Ein Teil der Kosten tragen wir Verbraucher, indem wir etwa vier Cent mehr für das Ei zahlen, wenn auf dem Karton „Bruderhahn“ steht, oder das Logo eines der vielen Nachahmer-Projekte. Das reicht aber nicht. Um nämlich einigermaßen groß zu werden, müssen die Bruderhähne gut zwanzig Wochen lang gefüttert werden. Ein Masthähnchen ist nach sechs Wochen schlachtreif. Selbst ein Biomasthähnchen lebt nur bis zu zwölf Wochen lang und wird dann im Hofladen für rund 28 Euro verkauft. Durch die Bruderhahn Initiative verdient die Schwester der nicht vergasten Hähne vier Cent mehr mit jedem Ei, das sie legt. Das werden in ihrem Hennenleben an die 380 sein, macht rund fünfzehn Euro Zuschuss für das Leben des Bruders. Der Hahn lebt aber doppelt so lange wie ein Masthähnchen und frisst weit mehr als doppelt so viel, müsste entsprechend fast doppelt so viel einbringen, um wenigstens kostendeckend aufgezogen zu sein. Das wären dann um die fünfzig Euro. Selbst abzüglich des schwesterlichen Zuschusses müsste der Bruderhahn im Hofladen immer noch 35 Euro kosten. Da dürfte auch bei den Kunden, die aus Überzeugung Bio kaufen, weil sie eine andere Landwirtschaft fördern wollen, die Schmerzgrenze längst überschritten sein.
„Auf den Tierfreund wirkt diese bis zur höchstmöglichen Vervollkommnung gesteigerte Ausnutzung einer Haustierart erschreckend“, schrieben die Autoren von Grzimeks Tierleben bereits 1969 zur einseitigen Zucht auf nur eine Eigenschaft beim schon damals industrialisierten Haushuhn. Die einseitige Ausrichtung auf nur weibliche Eigenschaften bei den Legehennenlinien ist das Problem, das sich auch mit der Aufzucht der Bruderhähne nicht aus der Welt schaffen lässt. Und auch nicht mit der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung und der Vernichtung der männlichen Embryonen. Eigentlich müsste ein Zweinutzungshuhn her, mit dem sich unter heutigen Bedingungen Eier und Hühnerfleisch produzieren lässt, sagen zumindest die Geflügelhalterinnen aus dem Biobereich. Und stecken deshalb Fördergeld in die Zucht von solchen Tieren. Dafür haben die Verbände Bioland und Demeter extra die Ökologische Tierzucht gegründet. Allein, es fehlt das große Geld, weshalb die ÖTZ nur langsam vorankommt. Eine neue Geflügellinie zu züchten kostet etwa achtzehn Millionen Euro, hat Rudolf Preisinger, der Chefgenetiker von Lohmann Tierzucht einmal vorgerechnet. Das Bundeslandwirtschaftsministerium steckt lieber sechs Millionen Euro Fördergeld in die Entwicklung der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung.
Also bleibt, solange die „Lohmänner“ noch gehalten werden, für die Betriebe aus dem Biobereich, die das Töten der Embryonen ablehnen, nur die Aufzucht der Bruderhähne. Dazu hat sich zuerst der Bioverband Demeter bekannt, vor zwei Wochen dann zog Naturland nach. Und bei Bioland wird ebenfalls an einer entsprechenden Richtlinie gearbeitet. Damit wird dann auch zum ersten Mal ein System installiert werden müssen, dass kontrolliert, ob die Betriebe die Bruderhähne tatsächlich großziehen, oder ob sie die Tiere nur kurz mästen, um vom Image des Kükentötens wegzukommen. Eine solche institutionalisierte Kontrolle gibt es bislang nur bei der Bruderhahn Initiative.
Seit Julia Klöckner den Referentenentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes vorgestellt hat und damit ein Datum gesetzt ist für die Einführung der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung, ist neue Bewegung gekommen in die Diskussion ums Kükentöten. Das kann sich die Bruderhahn Initiative schon mal zugutehalten. Acht Jahre zähes Ringen um die Tierethik, viele Nachahmer und am Ende auch das Drängen der Vermarkter auf eine grundsätzliche Änderung. Rewe & Co. wollen weg vom Image des Kükentötens. Ob die Supermarktketten allerdings mit Julia Klöckners Abtreibungsprojekt zufrieden sind, bleibt abzuwarten. Ebenso, ob sie dann bereit sind, die ganzen teuren Bruderhahn-Produkte zu verkaufen. Und ob wir bereit sind, sie zu kaufen. Bislang jedenfalls sind die vier Cent teureren Eier der Bruderhahn Initiative und ihrer Nachahmer auch im Biobereich noch eine Nische. Aber man kann sie finden …
Der Referentenentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Glaeserne-Gesetze/Referentenentwuerfe/6-gesetz-aend-tierschutzgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=2
Die Bruderhahn Initiative: https://www.bruderhahn.de/
Demeter zu Bruderhähnen: https://www.demeter.de/bruderhahn
Naturland zu Bruderhähnen: https://naturland.de/de/naturland/naturland-news/251-presse-naturland/3337-naturland-zu-kuekentoeten.html