Was uns die Lebensmittel kosten

Die Lebensmittelpreise lügen. Das weiß jeder Landwirt, der kaum seine Gestehungskosten erwirtschaften kann. Seit Jahren klagen die Milchbäuerinnen, derzeit auch die Schweinemästerinnen. Die sommerliche Trockenheit hat die Ernte auch im Ackerbau reduziert, das dritte Jahr in Folge. Das Angebot ist also knapper geworden. Aber steigen deswegen die Preise? Nein! Warum nicht?

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Vor fünf Jahren hat sich ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg aufgemacht in ein neues Gebiet der Wirtschaftswissenschaften. Tobias Gaugler erforscht die „wahren Preise“ unserer Lebensmittel. Was kostet ein Pfund gemischtes Hack, was kostet ein Liter Milch wirklich, wenn man all das in den Preis hineinrechnet, was derzeit nicht eingerechnet wird, aber an Kosten anfällt. Was wäre der Preis von Lebensmitteln, wenn wir den bei ihrer Herstellung anfallenden Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen beim Einkauf mit bezahlen müssten? Wenn also die sogenannten externalisierten Kosten nicht mehr auf die Allgemeinheit, die Steuerzahlerinnen, die kommenden Generationen abgewälzt würden. Die Universität Augsburg hatte gerade den neuen Studiengang Wirtschaftsingenieurswesen gestartet und darin auch das Thema Nachhaltigkeit integriert. Tobias Gaugler nahm sich dort der nachwachsenden Rohstoffe an und kam so sehr bald zu den Umwelteinflüssen der Lebensmittelproduktion. Nach fünf Jahren sind mehrere Abschlussarbeiten und Studien zum Thema entstanden – und eine Kooperation mit der Uni Greifswald, wo Amelie Michalke das Thema betreut. Nach den ersten Veröffentlichungen meldete sich der Sprecher der Rewe Gruppe in Augsburg und fragte, ob er nicht für einzelne Lebensmittel in einem neuen „Nachhaltigkeits-Erlebnismarkt“ von Penny in Berlin-Spandau eine konkrete Berechnung der Preise bekommen könnte. Er konnte. So ist „True Cost Accounting“, die Berechnung der gesamtgesellschaftlichen Kosten in einem deutschen Lebensmittelmarkt angekommen. Penny zeichnet dort einige Waren doppelt aus – mit dem real zu zahlenden Preis des Discounters – und dem realeren Preis bei Einberechnung zumindest einiger Komponenten von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung.

Penny eröffnete im September seinen ersten „Nachhaltigkeitsmarkt“ in Berlin Spandau. In den Regalen auch einige Lebensmittel mit True-Cost-Preisen, ausgerechnet von den Universitäten Augsburg und Greifswald. | Fotos: Rewe Group

?          Tobias Gaugler, welche Ressourcen- und Umweltbelastungen beziehen Sie denn in Ihre Berechnungen ein?

!           Noch können wir nur wenige Bereiche der externalisierten Kosten in unsere Berechnungen einbeziehen. Insofern muss ich deutlich machen, dass das, was wir tun, noch Stückwerk ist. Wir haben ein paar Puzzlesteine, die wir richtig setzen können, es fehlen aber noch sehr viele zu einem wirklich umfassenden Gesamtbild. Das können wir hoffentlich noch verbessern, weil wir jetzt zum ersten Mal auch etwas staatliches Forschungsgeld bekommen, aber noch müssen wir uns auf wenige Teile der tatsächlichen Gemeinkosten der Lebensmittelproduktion beschränken. Wir haben uns CO2-Äquvivalente, also die Klimagase, angeschaut. Als zweiten Faktor haben wir den Übereintrag mit reaktivem Stickstoff, also die Düngeproblematik. Als dritten Faktor haben wir den Energiebedarf mit einbezogen und als vierten Treiber die Landnutzungsänderungen.

?          Der für den Sojaanbau abgeholzte Regenwald ist also mit in der Berechnung. Die Belastung unserer Gewässer und des Grundwassers auch?

!           Die Landnutzungsänderung ist drin, der abgeholzte Regenwald insofern auch, aber nicht, was danach dort geschieht, also wie Soja angebaut wird. Die Nitratbelastung der Gewässer ist über den Düngerüberschuss mit in der Berechnung, aber andere chemische Belastungen, etwa durch Pestizidrückstände, sind noch nicht berücksichtigt.

?          Die Folgen des jahrzehntelangen Pestizideinsatzes dürften aber doch einen sehr großen Anteil an den externalisierten Kosten zumindest der konventionellen Lebensmittelproduktion haben. Belastete Lebensmittel, Böden und Gewässer bedeuten erhöhte Gesundheitskosten, chronische Krankheiten, Verlust von Biodiversität.

!           Das wird unser nächster Punkt. Wir forschen gerade daran, wie wir den Pestizideinsatz einpreisen können. Zu diesem Problem entstehen gerade auch zwei Abschlussarbeiten.

?          Und was ist mit den verschiedenen Formen der Tierhaltung?

!           Wie man Tierleid oder Tierwohl bepreisen kann, wäre eine interessante Diskussion. Wir denken darüber nach, uns in diesem Bereich mit Sekundärkosten zu behelfen. Man könnte zum Beispiel ausrechen, was es kosten würde, die konventionellen Ställe zumindest auf Bio-Standard umzubauen oder was es kosten würde, Freilandhaltung und Weidegang vorzuschreiben. Das haben wir aber jetzt alles noch nicht in den Berechnungen. Die Folgen der Arbeitsbedingungen im Ausland oder auch in deutschen Schlachtbetrieben haben wir ebenso wenig berücksichtigt wie die Folgen von Fehlernährung. Aber selbst mit den lediglich vier Kostentreibern, die wir berücksichtigt haben, kommen wir zu deutlichen Preisverschiebungen.

?          Nun ist eine der gängigen Kritiken an Ihrer Arbeit, dass die Preise im Kapitalismus ja nicht durch die Kosten entstehen, sondern durch den Markt, also das berühmte Duo von Angebot und Nachfrage.

!           Es gibt in freien Märkten nur dann faire Preise, wenn alle Umwelt- und Sozialkosten internalisiert sind. Wenn wir die Umweltkosten nicht mit einbeziehen, wie es aktuell der Fall ist, und sie damit jemand anderem aufbürden, dann bilden sich am Markt Fehlbepreisungen. Das ist dann sogar eine Form von Marktversagen. Und wenn das der Fall ist, dann hat der wirtschaftspolitische Akteur, also die Ordnungspolitik, die Aufgabe, gegenzusteuern. Wie absurd die Auffassung ist, dass Umweltfolgekosten, die ja in der Tat anfallen, nicht Eingang in die Preissetzung finden sollten, mache ich gerne an einem Bild fest. Wir haben für Penny berechnet, dass die konventionelle Milch mehr als das Doppelte kosten müsste. Ich kann ja nun nicht zum Penny gehen und zwei Liter Milch mitnehmen, aber nur einen bezahlen. An der Kasse sage ich dann, den zweiten Liter Milch zahlen andere: Steuerzahler, zukünftige Generationen, Klimaflüchtlinge. Dann kommt die Polizei. Und der sage ich dann: So machen es alle! Das ist staatlich gebilligt und gesetzt, dass man sich um die Hälfte der Kosten drückt. Solch eine Argumentation geht in vielen Bereichen nicht, in einigen aber eben doch: bei Flugreisen und Lebensmitteln zum Beispiel.

Tobias Gaugler und Kolleginnen von den Universitäten Augsburg und Greifswald arbeiten an den „wahren Preisen“ deutscher Lebensmittel. | Foto: Universität Augsburg

True Cost Accounting

Tobias Gaugler: „Unsere Untersuchungen offenbaren eine teils enorme Differenz zwischen den aktuellen Verkaufspreisen und den wahren Kosten. Die höchsten externen Folgekosten und damit aktuell größten Fehlbepreisungen gehen mit der Produktion konventionell hergestellter Nahrungsmittel tierischen Ursprungs einher. Der Verkaufspreis von konventionell produziertem Hackfleisch müsste knapp dreimal so teuer sein wie er es derzeit ist, die zweithöchsten Aufschläge müssten für konventionell hergestellte Milchprodukte erfolgen, die niedrigsten für Bio-Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs. Unseres Erachtens sollten die Preisaufschläge vom Staat erhoben und dann aufkommensneutral weitergegeben werden. Zum einen an Landwirte, die umweltschonend produzieren. Und zum anderen, wie es der Sachverständigenrat der Bundesregierung vorschlägt,1[1] https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/sg2019/sg_2019.pdf  S. 115 ff. in Form einer pauschalen Rückvergütung als Klimadividende an alle Bürger. Mit diesem Instrument würde umweltfreundliches Verhalten belohnt und ein sozialer Ausgleich erreicht werden.“

Beispielberechnungen

Realistischere Preise für Lebensmittel mit den vier bislang eingepreisten Kostentreibern Klimagase, Stickstoffübereintrag, Energiebedarf, Landnutzungsänderungen.

LebensmittelProduktionsweisePreisaufschlag
Apfelkonventionell / bio8 % / 4 %
Bananekonventionell / bio19 % / 9 %
Kartoffelkonventionell / bio12 % / 6 %
Tomatekonventionell / bio12 % / 5 %
Mozzarellakonventionell / bio52 % / 30 %
Goudakonventionell / bio88 % / 33 %
Milchkonventionell / bio122 % / 69 %
Hackfleisch gemischtkonventionell / bio173 % / 126 %
Als Penny seinen „Nachhaltigkeitsmarkt“ in Berlin-Spandau eröffnete, gab es das Pfund gemischtes Hackfleisch aus „konventioneller“ Produktion zum Dumpingpreis von 2,79 €. Das Preisschild sagte, was es eigentlich mindestens kosten sollte: 7,63 €.

Lesetipp:

Was die Universitäten Augsburg und Greifswald noch nicht in die „wahren Preise“ unserer Lebensmittel einpreisen können: Die Schäden durch synthetische Pestizide. In diesem Buch sind sie genau erklärt. Und es werden auch die gewaltigen gesamtgesellschaftlichen Kosten benannt, die das System der pestizidgetriebenen Industrielandwirtschaft verursacht.

https://www.buchkomplizen.de/ebook/Alle-Buecher/Das-Gift-und-wir.html

Mehr Informationen:

https://www.soilandmore.com/de/leistungen/true-cost-accounting

https://www.misereor.de/informieren/fairer-handel/wahre-kosten

https://www.natureandmore.com/de/true-cost-of-food/was-ist-true-cost-accounting

https://www.3sat.de/wissen/nano/201021-landwirtschaft-nano-104.html

https://www.researchgate.net/project/How-much-is-the-dish-Measures-for-Increasing-Biodiversity-Through-True-Cost-Accounting-for-Food-Products