Naturverträgliche Pestizide?

Was wird hier gespritzt? Halmverkürzer, Fungizid oder schlicht das Totalherbizid Glyphosat, mit dem – bis Ende 2023 noch zulässig – auch gerne mal der optimale Erntezeitpunkt gewählt wird, indem das Getreide kurz vor der Ernte totgespritzt wird. | Foto: Erich Westendarp

„Bundesumweltministerin Lemke und Landwirtschaftsminister Özdemir haben angekündigt, die Landwirtschaft neu auszurichten. (…) Das würde unter anderem bedeuten, dass bald nur noch naturverträgliche Pestizide eingesetzt werden dürfen und Produkte wie etwa Glyphosat vom Markt genommen würden.“ (NDR Info, 18.01.22)

So klang das in den Radionachrichten und am Abend dann auch in der tagesschau, als die beiden Grünen am 18. Januar zum virtuellen Agrarkongress geladen hatten. Die große Nachricht war: Steffi Lemke und Cem Özdemir verkündeten eine „strategische Allianz“ der beiden Ministerien, die in der Vergangenheit meist gegeneinanderstanden. Aber was bitte sind „naturverträgliche Pestizide“? Da muss man doch mal nachfragen.

Definitionsfragen

Also habe ich gefragt beim Bundeslandwirtschaftsministerium und tatsächlich binnen kurzer Frist auch eine Antwort bekommen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil eine recht neue Erfahrung. In der Vergangenheit wurden Pressefragen gerne auch mal unbeantwortet gelassen oder die Antworten kamen, wenn die Fragen längst nicht mehr aktuell waren. Die Antwort allerdings, die nun so zügig kam von einer Sprecherin des Ministeriums, klingt dann ganz so, als käme sie aus der Vergangenheit: „Grundsätzlich werden alle Pflanzenschutzmittel auf ihre Auswirkungen auf die Umwelt überprüft. Nur wenn zum Beispiel durch Anwendungsbestimmungen die Risiken für die Umwelt minimiert werden können, werden Anwendungen zugelassen. Pflanzenschutzmittel-Anwendungen müssen sicher sein.“ Huch! Hatte ich nicht dezidiert nach den sogenannten naturverträglichen Pestiziden gefragt und nicht nach dem Zulassungsverfahren? Vielleicht steckt ein Teil der Antwort im nächsten Satz: „Auch Wirkstoffe aus der Natur, zum Beispiel Pflanzenextrakte, müssen das Zulassungsverfahren durchlaufen, da auch bei ihnen unannehmbare Auswirkungen ausgeschlossen werden müssen.“ Gut, da hätten wir also „Wirkstoffe aus der Natur“, also biologische Gifte. Sollen das die naturverträglichen der Zukunft sein? Wohl doch nicht, denn die Antwort aus dem Ministerium endet mit einem Satz, der alles wieder zusammenrührt: „Es müssen also alle Pflanzenschutzmittel grundsätzlich naturverträglich sein.“

Auch sogenannte naturverträgliche Gifte sind Gifte! „Auch unter den im Bioanbau zugelassen Stoffen gibt es welche, die man besser nicht anwenden sollte“, sagt Prof. Johann Zaller von der Wiener Universität für Bodenkultur. | Foto: privat

Fragen wir doch mal andersherum und anderswo: Welche „Pflanzenschutzmittel“ – so heißt das im Sprachgebrauch von Herstellern, Behörden und Anwendern – dürfen denn in der Ökolandwirtschaft angewendet werden. Kommen wir dem Begriff Naturverträglichkeit damit näher? Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, eine beim Landwirtschaftsministerium angesiedelte Behörde, hat gerade die Liste der „Zugelassenen Pflanzenschutzmittel“ für den ökologischen Landbau nach der Durchführungsverordnung der EU aktualisiert. 230 Seiten mit Tabellen von Wirkstoffen, den zugehörigen Produkten und den Zielen, also den Schadorganismen und Einsatzzwecken.

Da finden sich dann die vom Ministerium angesprochenen Pflanzenextrakte, Pyrethrine zum Beispiel. Das sind Gifte, mit denen sich die Wucherblumen, zu denen Mutterkraut, Frauenminze und Rainfarm gehören, gegen Insektenfraß schützen. Schon die Römer setzten sie als „persisches Insektenpulver“ gegen Läuse und Flöhe ein. Der Ökolandwirt darf nach EU-Verordnung damit zum Beispiel Kartoffelkäfer besprühen. Pyrethrine aus Pflanzen zu extrahieren ist allerdings aufwendig und teuer, weshalb die Agrarchemie aus dem Wirkstoff synthetische Pyrethroide entwickelt hat. Die aber sind im Ökolandbau nicht zugelassen, unter anderem, weil sie nicht so schnell zerfallen wie die natürlichen Gifte. Sie lagern sich in der Umwelt ein.

Ist das der große Unterschied, der aus der Natur extrahierte Gifte naturverträglicher macht: ihre geringere Persistenz, also Langlebigkeit. Weshalb man bei Anwendung solcher Gifte vielleicht weniger Organismen trifft, die man gar nicht treffen wollte. Das habe ich Johann Zaller gefragt, Professor an der Wiener Universität für Bodenkultur und Autor des Buches „Unser täglich Gift“. „Das sind natürlich auch Gifte“, sagt er, „und sie sind auch nicht so spezifisch, dass sie nur auf den Zielorganismus wirken, den man treffen will. Da können auch Nützlinge getroffen werden.“ Dennoch sagt der Professor: „Mit naturverträglich könnte zunächst einmal das gemeint sein, was im Biolandbau zugelassen ist. Aber auch unter den dort zugelassenen Stoffen gibt es welche, die man besser nicht anwenden sollte.“ Ein solcher Stoff findet sich in der Liste der nach EU-Oko-Verordnung zugelassenen Insektizide direkt unter den Pyrethrinen: Spinosad, gewonnen aus Bodenbakterien, einsetzbar gegen Kartoffelkäfer und Maiszünsler. „Spinosad ist angezählt, weil es bienengiftig ist. Anbauverbände wie Bioland und Demeter verbieten es.“

Off-Target nennen die „Pflanzenschützer“ das, wenn die Gifte nicht das Zielobjekt treffen, etwa den Kartoffelkäfer, sondern die Biene, die die Kartoffelblüten besucht. | Foto: Rostichep / Pixabay

Claudia Daniel, die für das Forschungsinstitut für biologischen Landbau, FIbL, BioControl-Strategien mit dem Einsatz von Nützlingen erarbeitet hat, führt in dem Pestizid-Reader „Das Gift und wir“ Spinosad als ein Beispiel für ein Mittel mit unerwünschten Nebenwirkungen an: „Verglichen mit synthetischen Pestiziden hat dieser Wirkstoff den Vorteil, dass er durch seine natürliche Herkunft auch durch natürliche Prozesse schnell wieder abgebaut wird; bei Sonnenlicht ist er nach drei Tagen zerfallen. Abgesehen davon kann Spinosad aber, ebenso wie einige synthetische Pestizide, starke Nebenwirkungen auf Bienen und nützliche Insekten haben. Der Ersatz synthetischer Pestizide durch Bio-Pestizide führt also nicht zwangsläufig zu einem nachhaltigeren Pflanzenschutz.“

Systemfrage

Was also ist gemeint mit „naturverträglichen Pestiziden“, wenn schon in der Liste der von der EU für den Ökolandbau erlaubten Mitteln so fragwürdige Kandidaten auftauchen? Ist die Frage danach, was man einsetzt und wieviel davon, vielleicht die falsche Frage? „Man kann natürlich über die Menge eingesetzter Gifte sprechen, über ihre Toxizität, darüber, ob sie synthetischer oder natürliche Herkunft sind, über die Persistenz, also die Einlagerung von Giften in Umwelt und Organismen“, sagt Niels Kohlschütter. Der Vorstand der Schweisfurth-Stiftung, die sich für eine zukunftsfähige Land- und Lebensmittelwirtschaft einsetzt: „Aber ich glaube, die Frage ist gar nicht, ob wir Pestizide irgendwie naturverträglicher machen können. Geht es nicht eigentlich um eine Änderung des Anbausystems, des gesamten Ernährungssystems?“

Der Agrarwissenschaftler Niels Kohlschütter, der sich jahrelang mit der Wirkung von Anbaumethoden und Gifteinsatz auf die Umwelt beschäftigt hat, stellt die Systemfrage: „Wenn wir weiter auf das Prinzip Maximierung setzen, statt auf Optimierung, wenn wir dabei bleiben, maximalen Ertrag erzielen zu wollen, dann bedeutet das, dass wir das Risiko deutlich erhöhen. Entsprechend müssen wir ständig reparieren. Die Pestizide haben wir inzwischen überall, wo wir sie nicht haben wollten. Im Oberflächengewässer, in der Luft, im Trinkwasser, im Boden, in der Nahrung. Und wir fragen uns, wie kriegen wir die minimiert – und suchen die Antworten dann wieder im chemischen Bereich oder im technischen. Wenn wir im System bleiben, rutschen wir immer von einer Folge in die nächste.“ Als Beispiel dafür, wie das funktioniert, oder vielmehr nicht, nimmt er die Getreidezucht: „Da wollten wir maximalen Ertrag und haben die Ähren und die Körner größer gezüchtet. Dann haben die Halme die Ähren nicht mehr tragen können und sind gebrochen. Dann haben wir Halmverkürzer gespritzt, damit das Getreide niedrig bleibt und stabil steht. Dann waren die Früchte aber so nah am Boden und dessen Feuchtigkeit, dass sich Schimmelpilze entwickelten und wir Fungizide spritzen mussten. Die Fungizide machen aber das Bodenleben kaputt.“ Fazit: Wir bekämpfen die Probleme, die wir selbst geschaffen haben.

„Die Frage ist nicht, ob wir Pestizide naturverträglicher machen können“, sagt der Vorstand der Schweisfurth-Stiftung. Niels Kohlschütter geht es um den Umbau des gesamten Ernährungssystems. | Foto: Angela. M. Schlabitz

Wäre ein Umstieg auf ein anderes System der Einsatz von dem, was man unter BioControl versteht? Also der gezielte Einsatz von Nützlingen, von Insekten beispielsweise, die andere Insekten jagen? „Wenn ich die Nützlinge in Fabriken produziere und sie im Karton auf den Acker fahre, bin ich wieder im bisherigen industriellen Maximierungssystem geblieben“, sagt Niels Kohlschütter. Es müsste schon das derzeitige Agrarsystem komplett umgebaut werden, um aus der Pestizidabhängigkeit auszusteigen. Die Landschaft müsste anders aussehen, sie müsste den Nützlingen wieder Lebensraum bieten, sie müsste viel kleinräumiger und diverser gestaltet sein. Es müsste wieder Weiden geben, statt Mähwiesen, denn die Weiden sind der Hort der Biodiversität in der Landwirtschaft. „Das bedeutet aber auch, dass ein Wandel auf den Tellern stattfinden muss. Das ist eine Herausforderung für uns alle, für die Landwirtschaft, die Politik und für uns als Verbraucher.“

Weniger mehr?

In einer Pressemitteilung zu seinem Agrarkongress mit Steffi Lemke und Cem Özdemir schreibt das Bundesumweltministerium: „Um Insekten und Ökosysteme zu schützen, will die Bundesregierung den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf das notwendige Maß beschränken und den Einsatz von Pestiziden deutlich verringern. Deshalb werde sie natur- und umweltverträgliche Alternativen zu chemisch-synthetischen Mitteln fördern, so Bundesumweltministerin Lemke.“

Aber geht es wirklich darum, weniger Pestizide zu verwenden oder nur noch sogenannte naturverträgliche, oder BioControl aus der Kiste? Ist es mit weniger Pestiziden überhaupt getan? Wie wird eigentlich festgestellt, was weniger ist? Prof. Johann Zaller hat sich mit seiner Arbeitsgruppe an der Universität für Bodenkultur die Reduktion des Herbizid Einsatzes in Österreich in den letzten zehn Jahren genauer angeschaut. 24 Prozent weniger Pflanzenvernichtungsmittel binnen eines Jahrzehnts, sagt die Statistik. Das klingt gut, als seien die Österreicher auf dem richtigen Weg. „Dann haben wir uns aber zusätzlich angeschaut, wie die verkauften Herbizide ökotoxikologisch zu bewerten sind, und da haben wir einen eklatanten Anstieg in der Giftigkeit gesehen. Das heißt, wir haben einen Rückgang in der Menge und eine Zunahme der Giftigkeit der Stoffe. Salopp gesagt: Da sind einfach schwere, weniger giftige durch leichtere, sehr viel giftigere Stoffe ersetzt worden.“ So kann eine Reduktion der eingesetzten Pestizidmengen auch erreicht werden – und das System weiter zementiert.

Wie sieht Landschaft eigentlich aus, wenn wir die Systemfrage stellen und uns von der Agrarsteppe verabschieden? Und wie ernähren wir uns dann? | Foto: Joseph Monter