Mit Treckerdemos endete das vergangene Jahr, mit Treckerdemos begann das neue. Die Bäuerinnen forderten ein Ende der Billigpreise für Lebensmittel und blockierten Auslieferungslager der Lebensmittelketten. Die Protestierenden stellten das Agrarsystem infrage. So schien es. Zuletzt allerdings rollten die Traktoren in Berlin gegen das neue Insektenschutzgesetz. Also soll offenbar doch alles beim Alten bleiben. Was denn nun, Systemfrage oder nicht?
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Bei genauerem Hinsehen scheinen die Bäuerinnen in neuen Koalitionen dann doch gewillt, ihre Sache einmal selbst in die Hände zu nehmen. Es ist nicht der Bauernverband, der hunderte von Traktoren auf die Straße bringt. Es ist die noch recht junge und wenig durchorganisierte Bewegung „Land schafft Verbindung“ LsV, die neuerdings Allianzen eingeht mit der als Teil der „Agraropposition“ seit vierzig Jahren bekannten AbL, der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft.
Was zusammen fährt
Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, die zumeist kleinere und mittlere Betriebe der eben bewusst bäuerlichen, nicht industriellen Landwirtschaft organisiert, ist auch Teil von „Wir haben es satt!“, einer Bewegung von Bauern-, Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbänden. Diese Bewegung bringt, außer in Corona-Zeiten, jedes Jahr zur Grünen Woche zehntausend Menschen gegen die Agrarindustrie in Berlin auf die Straße. Auch da fahren sehr viele Traktoren aus der ganzen Republik auf. Aber nicht so viele, wie in der letzten Zeit durch die Innenstädte dieselten oder vor den Werkstoren der Lebensmittelverarbeiter und den Lagern des Lebensmitteleinzelhandels standen.
Noch im vergangenen Jahr erschien die Treckerdemo vom LsV in Berlin wie eine Gegendemonstration zu „Wir haben es satt!“ Dann machte sich eine Delegation der AbL auf, um mit den demonstrierenden meist jungen Kolleginnen vom LsV zu sprechen. Und siehe, man tauschte nicht nur Freundlichkeiten aus, sondern auch Redner, die bei den jeweils anderen Demonstrationen auftraten. Und in letzter Zeit demonstrieren AbL und andere kleinere Bauernverbände zusammen mit dem jungen LsV. Es hat sich also tatsächlich etwas getan bei den Landwirtinnen. Da fand ich es an der Zeit, einmal nachzufragen – und zwar bei dem Verband, der für die Agraropposition steht.
Ottmar Ilchmann, der Vorsitzende des AbL Niedersachsen/Bremen, war erstaunt, wessen Traktoren da plötzlich auffuhren bei den Aktionen vor den Molkereien und Schlachthöfen und dann vor den Lagern der Lebensmittelketten. Neu sei gewesen, dass da nicht nur die kampferprobten Milchbauern demonstrierten, zu denen er selbst gehört, sondern durchaus auch große Mastbetriebe teilgenommen hätten. „Die haben früher überhaupt nicht protestiert“, sagt er: „Die haben sich früher schlicht dem Markt gestellt, wie das immer hieß, und sie haben das System auch bejaht. Jetzt sind sie zum ersten Mal damit konfrontiert, dass das System auch diejenigen nicht mehr überleben lässt, die wirklich alles richtig gemacht haben, tüchtig investiert und sich für die Zukunft aufgestellt haben, die den Empfehlungen von Verbänden und Politik immer gefolgt sind.“
Ohne den Bauernverband
Womit wir beim Eingemachten wären, oder sagen wir: beim Selbstgemachten. Denn war es nicht der Verband eben jener Großbauern, der Deutsche Bauernverband, der das Credo vom „Wachsen oder Weichen“ jahrzehntelang mitgebetet hat? Der das, was die neoliberalen Marktstrategen vorbeteten, an seine Mitglieder weitergab: Investieren und für den Weltmarkt produzieren: Soja importieren und Fleisch und Milch exportieren. „Das war über Jahrzehnte der Mainstream“, sagt Ottmar Ilchmann, „und dem hat sich der Bauernverband angeschlossen. Er hat sich darauf konzentriert, Wachstum zu ermöglichen, Intensivierung der Landwirtschaft und Produktionssteigerung. Und dafür hat er versucht, alle Produktionshemmnisse aus dem Weg zu räumen, also alles, was sich mit Umwelt und Tierwohl auseinandersetzt.“ Damit habe der Bauernverband ein System mit etabliert, das genau zu dem Höfesterben geführt hat, das der Verband gerne beklagt. Entsprechend ist der Bauernverband jetzt nicht dabei, wenn die Bäuerinnen auf die Trecker steigen. „Und das ist auch gut so!“, sagt Ottmar Ilchmann und schreibt im AbL-Verbandsblatt „Unabhängige Bauernstimme“ über die neuen Bauerndemonstrationen: „Der Bauernverband ist dabei merkwürdig still und das sollte auch so bleiben, hat er doch schon vor vielen Jahren jeglichen Einsatz für faire Erzeugerpreise aufgegeben.“
Dagegen sein kann der Bauernverband allerdings immer noch ganz gut, wie Verbandspräsident Rukwied mit einer peinlichen Einmanndemo mit Museumspflug jüngst vor dem Kanzleramt bewies. Da ging es gegen das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Insektenschutzgesetz, das die Existenzgrundlage vieler Bauernfamilien gefährde. Dagegen hatten zuvor auch schon andere demonstriert. Die fuhren wieder mit hunderten Traktoren nach Berlin. Von denen waren einige mit der Fahne der ehemaligen Landvolkbewegung beflaggt: weißer Pflug und rotes Schwert auf schwarzem Grund. Das Landvolk war eine völkisch-nationale, antidemokratische und antisemitische Bauernorganisation, die sich 1928 zunächst in Schleswig-Holstein gegründet hatte. Die Berichterstattung nach der Demonstration konzentrierte sich entsprechend auf diese Fahne; die Forderungen der Bäuerinnen traten in den Hintergrund. Und AbL und LsV mussten sich fragen lassen, mit wem sie sich da eigentlich eingelassen hatten.
Nun war die Demo gegen das Insektenschutzgesetz weder eine offizielle der Bewegung Land schafft Verbindung, noch gar eine der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, die sich ohnehin eher für mehr Biodiversität einsetzt. Vielleicht war die mediale Aufregung auch gar nicht angebracht, denn bis heute heißt der offizielle Landesverband des Deutschen Bauernverbandes in Niedersachsen Landvolk, und die Fahne, sagt Ottmar Ilchmann vom AbL im Gespräch, habe er beim Bauernverband im heimatlichen Ostfriesland auch schon mal gesehen. Vielleicht müsste da auch die Verbandsgeschichte noch etwas aufgearbeitet werden.
Zurück zur Systemfrage
„Ich lehne es ab, mich am Bauernverband abzuarbeiten“, sagt Ottmar Ilchmann. Er will sich stattdessen darauf konzentrieren, die neue Bewegung zu nutzen, um konkrete Erfolge für die Betriebe herauszuholen. Und da säßen die Ansprechpartner im Übrigen auch nicht beim Lebensmitteleinzelhandel, sondern bei den Verarbeitern. „Wir liefern ja nicht an Lidl, sondern an Molkereien und Schlachthöfe oder andere Verarbeiter. Wir können nicht mit Lidl oder Aldi verhandeln, wir haben ja meist gar keine Geschäftsbeziehung mit dem Lebensmittelhandel.“
Welche Geschäftsbeziehung hat man aber, wenn man zu viel produziert und damit die eigene Ware im Überfluss anbietet? Bevor in der EU die Milchquote fiel, wurden im ganzen Land wie im Akkord neue Kuhställe gebaut. „China säuft das alles weg“, sagten die Marktstrategen. Die Folge: Wir produzieren zehn Prozent mehr Milch als in Deutschland verbraucht werden. Beim Käse sind es sogar 26 Prozent über Bedarf. Und beim Schweinefleisch sind es zwanzig Prozent mehr als hierzulande verkauft werden. Wenn der viel bemühte Weltmarkt dann einmal stottert, weil China nichts mehr wegsäuft, weil die Afrikanische Schweinepest den Export blockiert oder Corona, dann helfen Treckerdemos wenig. „Stimmt,“ sagt der nachdenkliche Landwirt: „Das ist ein System, das wir alle gemeinsam installiert haben: Landwirtschaft, Politik und letztlich auch Verbraucher. Deshalb ist es auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das System wieder zu ändern.“ Sprich: Weg vom Import von Futtermitteln und vom Export von Fleisch. Weg von den Dumpingpreisen für Lebensmittel. Dann können wir uns auch Insektenschutz leisten und die Bäuerinnen dafür bezahlen.
Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft: https://www.abl-ev.de/start/
Die Bewegung Land schafft Verbindung: https://landschafftverbindung.de/
Der Milchdialog und die Aktion Schluss mit Lustig: https://www.milchdialog.com/