Corona ist nicht allein. Manche von uns befinden sich zurzeit in mehreren Seuchengebieten. Neben den Ortsschildern vieler Dörfer in Küstennähe stehen Schilder mit der Aufschrift „Geflügelpest“. Hühner, Enten und Gänse dürfen nicht mehr ins Freie, denn ihre wilden Verwandten haben bei ihrem herbstlichen Zug die Vogelgrippe mitgebracht.
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Anders als das Coronavirus SARS-CoV2 braucht die „aviäre Influenza“ keine Flugzeuge und keine Menschen, um sich auszubreiten. Sie fliegt mit Avis, dem Vogel, und muss dafür auch kein Auto mieten. Dass die Vogelgrippe zu uns kommen würde, wussten wir seit dem Sommer, als in Sibirien und Kasachstan tote Vögel mit dem hochpathogenen Influenzavirus H5N8 gefunden wurden. Von dort kommen im Herbst die Wasservögel an der Küste entlang zu uns. Und da sie sich in großen Zügen sammeln, kann sich das Virus bestens unter ihnen ausbreiten. In allen Regionen, in denen Zugvögel unterwegs sind, die das Virus tragen können, besteht nun die Pflicht zum Aufstallen des Geflügels. Das heißt, die Hühner, Enten und Gänse dürfen nicht mehr ins Freie. Wenn sich dennoch auch nur ein Tier auf einem Geflügelhof ansteckt, werden sie alle getötet. Und das, obwohl es eine Impfung gegen die Vogelgrippe gibt.
Gefahr für wen?
Das Friedrich-Loeffler-Institut, das deutsche Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, warnt in seiner Risikoeinschätzung, dass sich mit manchen Varianten der Vogelgrippe auch Menschen anstecken und daran sterben könnten. Geschehen ist das bislang hauptsächlich mit der Virusvariante H5N1 in Südostasien und Ägypten, und mit der Variante H7N9 in China. Die Virusvariante H5N8, die derzeit unterwegs ist, steht allerdings nicht im Verdacht, bei Menschen eine Epidemie auslösen zu können. Und das Robert-Koch-Institut stellt allgemein fest: „Es gibt derzeit weltweit keine Hinweise für eine fortgesetzte Mensch-zu-Mensch-Übertragung mit aviären Influenzaviren.“ Also warum werden die ganzen Tierbestände „gekeult“, warum eine Massentötung, wenn auch nur ein Tier infiziert ist? Bislang hat der diesjährige Seuchenzug neun Nutztierbestände in Norddeutschland erreicht. Neben kleineren Hausgeflügelhaltungen waren auch zwei große Betriebe betroffen, in denen 50.000 Legehennen und 16.000 Puten getötet wurden. „Vorsorglich“, heißt es dann immer in den amtlichen Verlautbarungen.
Vorsorge für wen? Für die Menschen ja offensichtlich nicht, wenn es gerade um eine für uns eher ungefährliche Variante des aviären Influenzavirus‘ geht. Aus Sorge um die Gesundheit der Tiere? Präventives Töten, sie könnten ja leiden? Ja, wenn man sicher wäre, dass sie alle sterben würden an der Infektion, könnte man so denken. Auch wenn der Tierschutzgedanke da eine prekäre Wendung macht und sich – gefühlt – gegen sich selbst dreht. Prof. Franz J. Conraths, der Leiter des Instituts für Epidemiologie im Friedrich-Loeffler-Institut, hat mir erzählt, wie das für ihn war, als er sich einmal angeschaut hat, wie die Geflügelpest durch einen großen Hühnerstall grassierte. Was er sah, hat ihm nicht gefallen. Die Tiere litten der Reihe nach und viele starben auch. Er konnte beobachten, wie das Virus rasend schnell durch den Bestand ging. Kein Wunder, wenn zumindest in konventionellen Betrieben über zwanzig Masthähnchen auf einem Quadratmeter Stallboden gehalten werden dürfen. Da hat jede Krankheit leichtes Spiel.
Warum nicht impfen?
Was also tun, wenn nicht präventiv töten? Vielleicht doch frühzeitig präventiv impfen, statt präventiv die Keule zu schwingen, wenn es zu spät ist? Es gibt seit langem mehrere Impfstoffe gegen Influenzaviren, die extra für Tiere entwickelt wurden. Es wird aber in Deutschland nur in Ausnahmefällen erlaubt, sie anzuwenden. Solche Ausnahmen gelten für seltene Tiere in Zoos oder auch Rote-Liste-Arten beim Hausgeflügel. Vor flächendeckenden Impfungen warnt dagegen die Weltgesundheitsorganisation, da die Tiere trotz Impfung Virenträger sein könnten und nicht mehr von infizierten Vögeln zu unterscheiden wären. Dennoch wurden in mehreren Staaten die Nutztierbestände bereits gegen Vogelgrippe geimpft. Schon vor fünfzehn Jahren, im November 2005, schlug Bernard Vallat, der Generaldirektor der Weltorganisation für Tiergesundheit in Paris, vor, zur flächendeckenden Impfung von Geflügel überzugehen. Die Ausbreitung des auch für Menschen gefährlichen Influenzavirus‘ H5N1 sei in Ländern wie Vietnam und Indonesien anders nicht mehr einzudämmen. China kündigte danach an, sämtliches Geflügel zu impfen. Auch in Westafrika wurde geimpft, nach einem Ausbruch der Vogelgrippe in Nigeria. 2006 genehmigte die EU dann auch Frankreich und den Niederlanden, Geflügel zu impfen, und aus Norditalien berichten Forscher von erfolgreichen Impfreihen bei Truthühnern. Egal, in Deutschland bleibt das Impfen von Geflügel gegen die Vogelgrippe verboten. Stattdessen wird tausendfach getötet.
Jedes Jahr entwickeln wir einen neuen Impfstoff gegen die sich stetig wandelnden Influenzaviren, die immer zur Grippesaison um die Welt wandern. Aber nur für Menschen. Natürlich könnten wir das mit der vorhandenen Routine auch für unsere Nutztiere tun. Oftmals müssten wir es gar nicht, sondern könnten schlicht die bereits vorhandenen Vakzine einsetzen. Aber „Nutztiere haben keine Lobby“, sagt der Geflügelhalter Carsten Bauck vom Bauckhof in Klein-Süstedt bei Uelzen. „Lieber investieren wir in die teure Tierseuchenversicherung“, die dann einspringt, wenn ganze Bestände gekeult werden müssen. Weil das so in der Geflügelpest-Verordnung steht, nicht weil das wirklich nötig wäre.
In Corona-Zeiten wird gerade sehr viel über die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen gegen die Verbreitung von Seuchen diskutiert. Das neue Infektionsschutzgesetz schreibt vor, dass alle verhängten Beschränkungen jeweils nach Monatsfrist überprüft werden. Wenn es um Tierseuchen geht, wird gar nichts überprüft. Seit Jahren und Jahrzehnten nicht. Schon die Sprache verrät, wie alt die hergebrachte Reaktion auf den Ausbruch einer Tierseuche ist: das massenhafte Töten nennen wir „Keulung“. „Die Verhältnismäßigkeit des Keulens kann ich nicht immer erkennen“, sagt Carsten Bauck. Wenn es den Bauckhof in Klein-Süstedt treffen würde, müssten 12.000 Masthähnchen, 7600 Legehennen und noch einmal so viele „Bruderhähne“ umgebracht werden. Huch, was ist ein Bruderhahn? Dazu demnächst mehr an dieser Stelle …
Aufstallen als Qual
Als Frankreich vor vierzehn Jahren knapp eine Million Enten und Gänse in drei am Atlantik gelegenen Departements impfte, wurde das damit begründet, dass ein Aufstallen der Tiere kaum umsetzbar und unzumutbar sei. Für die Geflügelhalterinnen, versteht sich, nicht für die Tiere. Das wäre aber genau die Frage, die sich die Veterinär- und Landratsämter stellen müssten, die bei einem Seuchenzug den Tieren Stallarrest verordnen: Ist das zumutbar für die Tiere? Was geschieht in den Ställen, wenn die Tiere nicht mehr hinausdürfen, wie sie das zeitlebens gewohnt sind?
Es ist leicht vorstellbar: Die Tiere sind verstört, ihnen fehlt die Beschäftigung, sie hocken auf engem Raum zusammen, sie werden depressiv und aggressiv. Am Ende geht die Zeit des zwangsweisen Aufstallens einher mit vielen Toten.
Es gibt allerdings auch hierfür Abhilfe. Die ist, wie so oft, eine Frage der Haltung. Der Bioverband Demeter schreibt seinen Geflügelhalterinnen Ställe mit „Wintergärten“ vor. Das sind nicht gedämmte Vorbauten mit natürlichem Boden. Die bilden eine zweite Klimazone innerhalb des Stalls. Erst von dort geht es dann ins Freie. Diese Wintergärten haben sich im Seuchenfall als sehr hilfreich erwiesen. Als auch auf dem Bauckhof die Legehennen und Broiler beim letzten Durchzug der Vogelgrippe im Stall gehalten werden mussten, bekamen die Hühner Leckerbissen wie Rote Beete und Möhren in die Wintergärten gelegt, zum Teil verpackt in Grasschnitt und Heuballen, aus denen sie das Futter herausklauben mussten. Die Tiere, die sonst jeden Tag in Pappelhainen draußen unterwegs sind, mit jeder Menge Abwechslung und Beschäftigung, haben die Seuchenzeit unbeschadet überstanden.