Der Krieg in der Ukraine brachte „eine Zeitenwende“. So hat das Kanzler Scholz gesagt. Seitdem viel zitiert und auch ins Englische eingegangen als „the Zeitenwende“. Noch eine Wende zu all den anderen, die anstehen, aber noch nicht vollzogen sind: die Klimawende, die Verkehrswende, die Biodiversitätswende und die Agrarwende. Diese alle könnten wir zusammenfassen als Teil einer einzigen – der Ernährungswende. Mit der wir dann gleich auch noch die Gesundheitswende geschafft hätten. Und die Gerechtigkeitswende, bei der es ja durchaus auch um Ernährung geht, wie wir durch den Ukraine-Krieg erneut vorgeführt bekommen.
So sagt das einer, der sich selbst Gastrosoph nennt. Ein Philosoph, der unser Verhältnis zur Erde, zur Welt, zu diesem Planeten, über das definiert und untersucht, was uns trotz aller Technik direkt mit der Natur verbindet: das Essen. Wenn wir unser Verhältnis zum Essen in den Griff bekommen, haben wir unser Verhältnis zur Erde geregelt. Das wäre dann, so sagt das Harald Lemke, die „Gastrosophische Revolution“, und damit die zweite Menschheitsrevolution nach der Neolithischen, mit der wir vor elftausend Jahren zu Bauern wurden.
Nabelschnur zur Natur
Harald Lemke ist Professor am Zentrum für Gastrosophie der Universität Salzburg und lehrt an der Slow Food Universität für gastronomische Wissenschaften im italienischen Pollenzo. Und er ist Direktor des Internationalen Forums Gastrosophie, das wiederum in Österreich beheimatet ist. In Deutschland gibt es nichts Vergleichbares.
Vielleicht kommt sich der Hamburger Harald Lemke zuhause auch deshalb zunehmend wie ein Rufer in der Wüste vor. Und ganz sicher musste ich ihn auch deshalb zuerst mal fragen: Was ist Gastrosophie? Nachdenken über unser Verhältnis zur Natur? Ja, sagt er, einerseits. Andererseits berührt dieses Nachdenken so viele Themen unserer Kultur, unseres Zusammenlebens, unserer Konflikte, dass er auf die Frage nach der von ihm entwickelten neuen Fachrichtung der Philosophie mit einer Gegenfrage antwortet: „Wie kann ich Philosoph sein, ohne über das Essen nachzudenken? Das Essen ist die Nabelschnur, die den Menschen mit dieser Erde verbindet. Es ist aber viel mehr.“ Er zählt die Themen auf, die den Gastrosophen umtreiben: Freiheit, Gerechtigkeit, Ökonomie, Kunst, Ästhetik, Politik, Utopie, Natur, Ökologie, Tiere, Pflanzen. „Wie kann ich denn über Freiheit und Gerechtigkeit nachdenken, wenn ich nicht die Ernährungsverhältnisse in den Blick nehme?“
Tatsächlich sind wir, wie der Gastrosoph sagt, „das Tier, das eine kulturelle Antwort auf das Grundbedürfnis des Selbsterhalts durch Ernährung gefunden hat: die Küche.“ Wir sind fast die einzigen Tiere, die – zumindest seit der Neolithischen Revolution – ihr Essen selbst anbauen. Fast sage ich, weil es durchaus auch andere Tiere gibt, die Ähnliches tun. Ameisen zum Beispiel pflegen Blattlauskolonien, um sie melken zu können. Sie haben Kühe, aber sie haben keine Küche. Und sie haben die Welt auch nicht an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, sie überlasten die Erde nicht, obwohl sie uns Menschen zahlenmäßig überlegen sind.
Nur wir schaffen es, der Erde mehr zu nehmen, als sie geben kann, die planetaren Grenzen zu überschreiten. Vielleicht hängt das auch mit der Küche zusammen, die wir entwickelt haben, als wir tatsächlich loszogen, um uns die Erde untertan zu machen. So wie das in der damals noch nicht geschrieben Bibel steht. Und vielleicht ist deshalb auch ein genauerer Blick auf unser Essen ein Blick auf all die Krisen, mit denen wir uns umgeben haben und mit denen wir so nicht mehr weiterleben können.
Wir sind Erdlinge
„Business as usual“, sagt Harald Lemke, „steht gerade nicht mehr an. Wir können nicht mehr weitermachen wie bisher.“ Unsere Kultur, und er meint die vielbeschworene christlich-jüdisch geprägte Kultur, habe seit Jahrhunderten davon geträumt, dass wir „Geistwesen“ seien. Unsere Religionen tun so, als seien wir gar nicht von dieser Welt, nicht von diesem Planeten. Und so, als seien wir nicht von hier, so sind wir auch umgegangen mit diesem Planeten. „Deshalb ist es jetzt höchste Zeit, uns als Erdlinge, als erdverbundene Wesen neu zu entdecken!“
Wenn wir die Produktion und die Verteilung unseres Essens in den Griff bekommen würden, dann hätten wir unsere Zukunft wieder im Griff. Könnte der Gastrosoph sagen. Sagt er aber nicht, weil es so einfach nicht ist. Stattdessen sagt er: „Man muss sich in Komplexität üben.“ Der Hunger sei schon einmal ein moralisches Thema gewesen in der Philosophie, in den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts. Und dann wieder aus dem Blick geraten.
Überhaupt ist schon vieles angedacht worden in der Vergangenheit. Der Philosoph Ludwig Feuerbach, einer der Vordenker des revolutionären Vormärz‘ im 19. Jahrhundert, hat mit der Tradition des deutschen Idealismus‘ gebrochen, der den Menschen nur als Geistwesen sah. Feuerbach hat den Menschen zumindest mal als „Essistenz“ gesehen, wie Harald Lemke das nennt: „Auch dein Geist muss vorher gespeist haben!“ Übrig geblieben von der Diskussion um Hunger und Ernährung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist aber nur das Feuerbach-Zitat: „Der Mensch ist, was er isst.“ Dieser Spruch wird gerne auch mal Hippokrates oder Paracelsus zugeschrieben, stammt aber von Ludwig Andreas Feuerbach. Was ihn nicht besser macht.
„Ist als Stammtischspruch natürlich Blödsinn“, sagt der Gastrosoph von heute, „sonst säße ich jetzt als Schokocroissant hier.“ Aber, um es mit einem anderen berühmten Zitat abzurunden: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Das wissen wir nicht erst seit der Dreigroschenoper. Der Gastrosoph aber sagt uns, dass beides untrennbar verknüpft ist. Harald Lemkes Habilitationsschrift ist zu einem Buch geworden über „Die Ethik des Essens“.
Wider den Marsismus-Muskismus
Der Gastrosoph fordert die Ernährungswende. Das ist die Wende, die alle anderen Wenden beinhaltet, die wir seit Jahrzehnten vor uns herschieben, inklusive Klima-, Biodiversitäts-, Agrarwende. Wenn wir uns darauf besinnen, Erdlinge zu sein und nicht mehr so tun, als könnten wir auch woanders und von einem anderen Planeten leben, dann könnten wir mit den Ernährungsverhältnissen auch unser Verhältnis zu unserem Planeten in Ordnung bringen. „Ich nenne es Ernährungswende“, sagt Harald Lemke, „obwohl das sehr technisch ist, wie all diese Wendebegriffe. In manchen emphatischen Momenten sage ich deshalb: Was wir brauchen ist die Gastrosophische Revolution.“
Und was ist, wenn die nicht kommt, oder wenn sie nicht rechtzeitig kommt? „Was ist rechtzeitig?“ lautet die gastrosophische Gegenfrage. Der „Erdgipfel“ von Rio, der die eigentliche Zeitenwende hätte sein sollen, ist jetzt dreißig Jahre her. Seitdem reden wir von der Wende zur Nachhaltigkeit, seitdem wird aber auch das Szenario immer wirkmächtiger, das uns daran scheitern sieht.
Kein Wunder, dass, angesichts der zunehmend sichtbaren und spürbar werdenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen auf der Erde, das Nachdenken und Planen des menschlichen Abflugs ins All immer konkreter wird. „Marsismus“ nennt Harald Lemke den Eskapismus der Technokraten und „Muskismus“ das tat- und finanzkräftige Mitwirken der Superreichen wie Elon Musk. In Anlehnung an den Marxismus-Leninismus des Zwanzigsten Jahrhunderts entsteht so der Marsismus-Muskismus des Einundzwanzigsten.
Harald Lemke will die Sternengucker aber eher dazu bringen, nach unten zu schauen; statt von fremden Welten zu träumen, sich um unsere hiesige zu kümmern. Wobei – wir könnten diese Leute doch auch einfach gehen lassen, oder? „Dann lass die doch einsteigen“, sagt er, „was auch immer für Figuren das dann sind. Dann sollen die da Terraforming machen. Und wir Erdlinge bleiben hier und reparieren.“
Wir bleiben hier und die Reichen und Mächtigen verlassen die Erde, die sie zuvor in Schutt und Asche gelegt haben. Einen Müllhaufen hinterlassen sie, der kaum noch überlebensfähig ist, wenigstens nicht so, dass die Spezies Homo sapiens darauf gut überleben kann. Aber vielleicht hat er recht und es geht ohne die Marsianer einfacher, auf der Erde das große Projekt voranzubringen: „Wir erfinden uns als Mensch neu, nicht als Geistwesen, sondern eben als Essistenz, als ein Wesen, das über das Essen eine bestimmte Intelligenz entwickeln kann.“
Utopie machen
Die Utopie des Gastrosophen ist eine Rückkehr zur Erde: „Wir kümmern uns um den Humus. Es gibt ein irdisches Paradies und nur dieses. Wenn wir das alles gut machen, kann es hier sehr nett sein.“
Nur anfangen müssten wir damit. Jetzt! „Geredet ist genug. Alle Informationen sind da und ausgetauscht.“ Was jetzt noch fehle, das sei das Tun. „Nicht mehr reden“, sagt er: „Machen!“ Der Professor reduziert seine Arbeitszeit, um sich auf seinem kleinen Bauernhof dem Boden, den Ziegen und Hühnern zu widmen.
Wer sich um einen Teil seiner Verpflegung, seiner Essistenz, wieder selbst kümmert, und sei es durch Urban Gardening, hat weniger Zeit, in irgendwelchen „Bullshit-Jobs“ die Erde zu zerstören. Von denen hat nicht Harald Lemke gesprochen, sondern der US-amerikanische Ethnologe und Wirtschaftsprofessor David Graeber. Aber es ging um ein ähnliches Thema, nämlich um sinnvolle und unsinnige Arbeit. Und das mit dem Retten der Erde für uns wird ein mächtiges Stück Arbeit …
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