Zwei aktuelle Sachbücher beschäftigen sich mit dem, was wir aus dem Schwein gemacht haben, nachdem wir es vor rund zehntausend Jahren zu uns nahmen und aus Sus scrofa, dem Wildschwein, Sus scrofa domesticus wurde, das Hausschwein. Beide Bücher zeigen sehr viel auch über eine ganz andere Spezies, nämlich Homo sapiens, den „denkenden Menschen“. Und darüber, was wir mit unserem Denkapparat anstellen beim Umgang mit Tieren.
Das erste der beiden Bücher habe ich im vorhergehenden Blog vorgestellt. Es ist ein persönlicher Blick des Autors auf das Mitgeschöpf Schwein, das er eigentlich nie zu Gesicht bekommen sollte. Das globale Massenschwein ist nämlich unsichtbar; es lebt weggesteckt, außerhalb unseres Blickfeldes.
Pig Business
Das zweite der beiden aktuellen „Schweinebücher“ ist schon im Ansatz das politischere. Der Untertitel macht das klar: „Vom Hausschwein zum globalen Massenprodukt“. Hier geht es einerseits um eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Hausschweins, andererseits um die Industrie, die sich das Tier einverleibt hat.
Schon im Vorwort listet Franz-Theo Gottwald, Professor für Bio- und Umweltethik, eine Reihe von Forderungen auf, die den „eindeutig nicht nachhaltigen Weg vom Hausschwein zum internationalen Fleischimperium“ beenden könnten. Das Buch erlaube den Leserinnen und Lesern „das Schwein als Mitgeschöpf wahrzunehmen und eine neue wertschätzende Haltung seinen Erzeugnissen gegenüber aufzubauen, die man selbst möglicherweise weiterhin genießen will.“ Es gehe um Bewusstseinsbildung und letztlich darum, „in Kenntnis des historischen Gewordenseins einer Industrie, das eigene Einkaufs- und Essverhalten kritisch zu überprüfen, um immer wieder bewusst zu wählen.“
Hauptautor Rudolf Buntzel hat Jahrzehnte im Evangelischen Entwicklungsdienst gearbeitet und sich um Agrarhandel, Agrarökologie und Armutsbekämpfung im Süden unseres Planeten gekümmert. Das schärft den Blick für Zusammenhänge und Abhängigkeiten und hilft auch in Deutschland: „Das Futter aus Brasilien, die Ferkel aus Dänemark, die Schlachter aus Rumänien, die Zuchtlinien vom Weltmarkt und der Fleischexport nach China: Wer will da noch glauben, dass das Schweinefleisch auf unseren Tellern aus regionalen Ställen stamm?“ Will sagen: Selbst, wenn du den Stall ganz in der Nähe hast, aus dem dein Kotelett stammt, ist das Hybridschwein ein internationales Industrieprodukt.
Hybride?
Sogenannte Hybride – Tiere oder Pflanzen – entstehen aus der Kreuzung zweier Inzuchtlinien. Zunächst werden die Elterntiere oder -pflanzen so lange durch Inzucht vermehrt, bis die gewünschten Eigenschaften verstärkt sind. Dabei nimmt man inzuchtbedingte Ausfälle in Kauf; also auch Missbildungen und Tote. Dann werden die Elternlinien gekreuzt und es entsteht eine Generation mit verstärkten Eigenschaften der beiden Elternlinien, die F1-Generation. Das F steht für filia, lateinisch Tochter. Bei den Nachkommen der F1-Generation geht der gewünschte Effekt wieder verloren.
In jüngerer Zeit ist das System auf drei Zuchtlinien erweitert worden. „Bei der Dreirassenkreuzung werden zwei verbesserte, reine Zuchtrassen gekreuzt; die weiblichen Nachkommen sind dann die Muttersauen der nachfolgenden Zucht. In der zweiten Generation wird dann mit einem Eber einer anderen, dritten Rasse gekreuzt.“
Hier endet das System. Wer weiter zum Beispiel Schweine mit wenig Fettansatz und mehr Koteletts durch verlängerten Körperbau und mehr Rippen haben will, muss Ferkel aus der industriellen Zucht nachkaufen. Diese Tiere eignen sich allerdings wenig für die ganzjährige Haltung im Freien, was zwar artgerecht wäre, aber deutlich robustere Schweine erfordert, als dies die üblichen Hybridschweine sind.
Lokale Schweine
Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte dieses intelligente Tier von seinen natürlichen Bedürfnissen getrennt, in Ställe und auf Spaltenböden gezwungen und zum Massenprodukt gemacht werden? Das ist die Grundfrage, der das Buch nachgeht.
Um die zu beantworten, schaut sich Rudolf Buntzel die Geschichte des Hausschweins an. Er berichtet uns, wie aus dem eurasischen Wildschwein das Hausschwein und aus diesem das industrielle Hybridschwein wurde. Und wie dabei aus einem vielfach genutzten und dadurch nützlichen Haustier nurmehr Fleischproduktion wurde und somit ein direkter Nahrungskonkurrent des Menschen. Spätestens seit dem Krieg in der Ukraine haben das alle gelernt; na gut, sagen wir: viele.
Der Autor unterscheidet zwischen lokalen Schweinen, globalen Schweinen und bäuerlichen Schweinen. Wobei die beiden letzteren sich in der Haltungsform weitgehend ähnlich sind, sich aber in der Menge der in einem Betrieb gehaltenen Masttiere unterscheiden. „Das lokale Schwein dagegen – auch vielfach als ‚Hinterhofhaltung‘ charakterisiert – ist Teil einer Armutsökonomie. Die Tiere werden ‚extensiv‘ gehalten, das heißt ohne großen Aufwand an Kapital, zugekauftem Input oder Vermarktung, aber mit Flächenbindung.“
Der gravierende Unterschied ist hier nicht unbedingt, dass das Hausschwein artgerechter gehalten wird, was vielerorts keineswegs der Fall ist, sondern dass es mehr als nur die Funktion der Fleischproduktion hat. Es vertilgt die Küchenabfälle und Essensreste des Haushalts oder des Dorfes. Es macht aus dem, was die Menschen nicht oder nicht mehr selbst essen können, neue Nahrung. „Für eine enge Bindung an den Haushalt eignet sich das Schwein hervorragend, deshalb auch seine lange geschichtliche Nutzung und starke Verbreitung unter traditionellen Gesellschaften Europas, Asiens, des Pazifiks und der Karibik. Das Tier ist leicht zu halten, frisst alles, ist äußerst fruchtbar, braucht wenig eigenes Land und lebt genießerisch.“
Letzteres allerdings nur, wenn man es lässt, wenn es raus kann, wühlen und sich suhlen. Wenn es „Dreckschwein“ sein darf und selbst entscheiden, wo es hinscheißt und wo es ruht. Das gibt es heute noch in mancher Hinterhofhaltung und heute wieder bei raren Bio- und Arche-Betrieben, die sich der Freilandhaltung verschrieben haben.
Das globale Schwein
Während in der lokalen Hinterhofhaltung das einzelne Schwein viel Aufmerksamkeit bindet und auch Arbeit macht, ist das globale Schwein einzeln gar nicht denkbar. „Obwohl sich dabei alles um das Schwein dreht, interessiert sich doch ‚kein Schwein‘ für das Schwein als solches, nur für sein Fleisch. Denn das Tier ist zu einer weltmarktfähigen Ware geworden. (…) Die Technik der Fleischausbeute ist weltumspannend. Das zerrupfte Tier wird in viele Teile aufgespalten, die in der ganzen Welt herumgereicht werden. Die Geschöpfe werden satt gemacht mit Futter von weit her. Die Anlagen, die ganze Stalltechnologie, die Rassen, die Fleischprodukte, alles ist gleich in der internationalen Welt der Nutzschweinhaltung. Ein Tier, ein System, eine Bedrohung.“
Das globale Schweinesystem wird uns gezeigt: die Entwicklung der Konzerne, die Vereinheitlichung der Genetik, die zerstörerische Futtermittelindustrie, die das globale Schwein zum „Weltenfresser“ macht und seine Produktion zu einer weltumspannenden Industrie.
Selbst in China, wo die häusliche Schweinehaltung viel verbreiteter war als bei uns, hat die industrielle Schweinhaltung die der Kleinbauern zerstört. Man könnte auch sagen: gerade in China. „Die Dimension der chinesischen Massenschweinehaltung übertrifft in vielen Fällen noch die Dimensionen, die in Europa gebräuchlich sind. Ein mehrstöckiges Schweinehotel in Gunxi etwa wird für 30.000 Muttersauen und 840.000 Ferkel ausgebaut. Ein Vorreiter ist die Firma Tianzow Breeding, mit Stallhochbauten im Nordwesten Chinas: Sechs Ställe mit jeweils sechs Etagen für 20.000 Sauen. Die Tiere werden in mehreren Stockwerken gehalten, mit automatischer Luftzufuhr und Wärmebildkamera (um Tiere mit erhöhter Temperatur zu identifizieren). Roboter misten aus.“
Für die Industrieschweine wird die Welt zerstört, der Handel mit Schweineprodukten zerstört lokale Märkte. So viel haben wir gelernt. Das Einzige, was wirklich lokal ist am Schweinemarkt, ist die Gülle. Denn die bleibt, während das Fleisch um die Welt reist. Und dass die Gülle lokal ein Problem sein kann, das wissen wir schon.
Ein Tier, ein System – aber was war mit dem dritten Teil dieser Beschreibung: eine Bedrohung?
Die Schweinegefahr
Die Pandemie könnte uns gelehrt haben, dass die Nähe zu Tieren auch gefährlich sein kann. Bei Covid-19 war es womöglich ein Pangolin, dem wir die Seuche verdanken, ein Schuppentier auf jenem inzwischen geschlossenen Tiermarkt in Wuhan. Von ihm könnte das Virus zum Menschen übergesprungen sein. Was haben Schuppentiere auf einem Markt verloren? Nichts, sie sind nur Beleg dafür, dass China der größte Wilderer der Welt ist.
Es könnte aber in Zukunft genauso gefährlich werden, wenn auf einem Markt Schweinfleisch gehandelt wird. Das Wort Zoonose dürften die meisten von uns im Zusammenhang mit Corona schon mal gehört haben. Es bezeichnet eine Krankheit, die vom Tier auf den Menschen überspringt. Deshalb warnt der Tierarzt Rupert Ebner, einer der Ko-Autoren des Buches in einem eigenen Kapitel über das epidemische Schwein: „Die Gefahr von Zoonosen ist vor allem dort gegeben, wo der Mensch in engen Kontakt mit Tieren kommt, wie bei der Nutztierhaltung. Je ähnlicher sich Mensch und Tier sind, desto größer das Risiko der Ansteckung. Menschen und Schweine sind sich, was die Organe, das Gewicht und die Ernährung betrifft, sehr ähnlich.“
Viren fühlen sich in Stallungen mit dicht gedrängten Tieren besonders wohl. Hier können sie sich ungehindert verbreiten und haben beste Voraussetzungen, neue Mutation auszubilden und auszuprobieren. Und mit dem Fleisch, den Transportbehältern, den Arbeitern, können sie selbst abgeriegelte Ställe verlassen, aus denen nie ein Schwein herauskommt. Außer natürlich zum Schlachter. Und wie gut Schlachthäuser geeignet sind, Viren zu verbreiten, das haben uns Corona und Tönnies gelehrt.
Das Schweinesystem könnte also am Ende nicht nur für die Schweine tödlich sein. Zehn Jahre vor Corona hatten wir ja schon einmal die „Schweinegrippe“. Das Influenzavirus H5N1 breitete sich von Mexiko über die USA in die Welt aus und forderte geschätzt 500.000 Menschenleben.
Das Neuschwein
Hugo Gödde ist ein weiterer Ko-Autor des Buches, Gründer des Vereins Neuland, der die Tierhaltung auf moderne Weise artgerechter machen will und seine Schweine raus lässt aus den Ställen. Er beschreibt die Ansätze einer alternativen Schweinewirtschaft in Deutschland. Das Neuland-Schwein, das Bio-Schwein, eigene Metzgereien, eigene Vermarktungswege, Verbraucher, die auf der Suche nach Qualität sind und für Tierwohl mehr zahlen.
Dazu dann die Borchert-Kommission, offiziell das „Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung“, und ihre Vorschläge für einen kompletten Umbau der Tierhaltung in Deutschland. Und schließlich der Lebensmitteleinzelhandel mit seinem Tierwohllabel, der nicht mehr warten wollte, bis die Politik in die Gänge kommt.
„Eine große Anzahl von kleinen, engagierten Initiativen versucht in dem vermachteten System der deutschen und internationalen Schweinwirtschaft zu überleben. Sie suchen und haben tatsächlich vereinzelt ihre Marktnischen gefunden, indem sie irgendetwas anders machen, anstatt dem globalen Schwein hinterherzulaufen. Die Tierhaltung unter den Bedingungen der biologischen Landwirtschaft und Neuland sind aber mehr als singuläre Korrekturen an der einen oder anderen Stelle. Sie bieten eine Alternative zur ganzen Wertschöpfungskette. (…) Das Tier als Geschöpf und nicht nur als möglichst billiger Fleischlieferant kommt wieder in den Blick.“
Die Marktlogik
Während ich das lese und darüber schreibe, erscheinen die aktuellen DLG-Mitteilungen, das Monatsmagazin der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. In der Rubrik „Markt“ geht es dort um Schweinefleisch. Der Titel des Beitrags: „Alternativen zu China gesucht“. Und darum geht es: „In China geht der Wiederaufbau der durch die ASP (ASP = Afrikanische Schweinepest) ausgedünnten Schweineherden rasant voran. In der Folge schrumpfen die Fleischzukäufe zusammen. Das setzt große Anbieter wie die EU unter Zugzwang, neue Absatzmärkte zu erschließen.“
Die marktlogische Überlegung hinter dem letzten Satz: Wenn der Weltmarkt weniger Schweinefleisch haben will, steigt der Kostendruck für die heimischen Schweinemäster. Und das muss mit neuen Absatzmärkten geheilt werden.
Wollten wir nicht mehr Tierwohl? Und also weniger Schweine pro Stallplatz. Wollten wir die Tierhaltung nicht umbauen? Und also die Schweine rauslassen aus den Ställen. Wollten wir nicht mehr bezahlen für gute Qualität? Und also aufhören mit diesem Schweinesystem.
Doch, das alles wollten wir! Das sagen wir Verbrauchrinnen und Verbraucher mehrheitlich in allen Umfragen. Das hat die Zukunftskommission Nutztierhaltung, die „Borchert-Kommission“ in ihr Abschlusspapier geschrieben. Das hat der Bundeslandwirtschaftsminister sich als Planungsziel vorgegeben. Nur, das haben die sogenannten Marktteilnehmer offenbar noch nicht begriffen. „Das Tier als Geschöpf“ ist eben noch immer nicht im Blick. Umso notwendiger die beiden in dieser und in der vorherigen Kolumne besprochenen Bücher …
Hier die Verlagsseite zu Rudolf Buntzel: Pig Business. Vom Hausschwein zum globalen Massenprodukt
Hier die Verlagsseite zu Kristoffer Hatteland Endresen: Saugut – und ein wenig wie wir. Eine Geschichte über das Schwein
Und in der nächsten Woche gehen wir an dieser Stelle einer weiteren Schweinefrage nach, die mit dem Weltmarkt und dem industriellen Schweinesystem zu tun hat: Warum wir die Afrikanische Schweinepest nicht in den Griff bekommen und was das für die Schweine bedeutet.