Anfang nächsten Jahres soll der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung eingeschränkt werden. Die EU-Kommission hat dazu ein Gesetz vorgelegt, das so viele Ausnahmen vorsieht, dass die zur Regel werden dürften. Dann ginge alles weiter wie bisher und auch Antibiotika, die eigentlich für die Behandlung von Menschen reserviert werden sollen, würden weiter in den Ställen verwendet. Die schon jetzt jährlich allein in Europa 33.000 Tote fordernden multiresistenten Keime würden sich weiter vermehren.
Der Umwelt- und Gesundheitsausschuss des EU-Parlaments hatte dagegen Einspruch eingelegt und Änderungen vorgeschlagen. Demnach sollten vier Wirkstoffgruppen tatsächlich nur den Menschen vorbehalten werden und nur in Ausnahmefällen noch Tieren verabreicht werden dürfen. Das dann aber nur in Einzelbehandlung und nicht – wie in der industriellen Stallhaltung üblich – ganzen Gruppen und damit auch tausenden gesunden Tieren. Dagegen lief wiederum der deutsche Bundesverband der praktizierenden Tierärzte Sturm – mit einer Petition, die Falsches behauptete und dennoch erfolgreich war.
Tierärzte gegen Humanmedizin
Die Bundesärztekammer hat vergeblich an die Europaabgeordneten appelliert, die Reserveantibiotika tatsächlich der Behandlung von Menschen vorzubehalten und der Ausbreitung multiresistenter Keime Einhalt zu gebieten. Die Tierärzte haben sich gegen die Humanmediziner durchgesetzt. Am Ende lag das an der konservativen Fraktion der EVP, in der die deutsche CDU/CSU die Meinungsführerschaft hat. Es ist Wahlkampf in Deutschland und da wollte man sich wohl nicht gegen eine Petition stellen, die den Tod der Schmusetiere prophezeit. Egal wie falsch diese Behauptung auch ist.
Eigentlich hätte der Bundesverband praktizierender Tierärzte bpt „Weiter so!“ über seine Petition schreiben sollen, denn genau darum geht es: dass alles so bleibt, wie es ist, trotz des Inkrafttretens der neuen Tierarzneimittelverordnung Ende Januar 2022. Über der Petition der Tierärzte steht aber „Gefahr für unsere Tiere“. Auf dem zugehörigen Plakat oder Meme schaut uns treuherzig ein Hund an und sagt: „Mein Leben ist in Gefahr!“. Damit haben sich fast 400.000 Menschen zum Unterschreiben verleiten lassen, obwohl der Erfolg der Petition genau dazu führen wird, dass ihre Hunde, Katzen, Kaninchen oder Meerschweinchen mit den sogenannten Reserveantibiotika nicht mehr behandelt werden können. Individuelle Einzelbehandlungen von Tieren sind nämlich in dem von der EU-Kommission vorgelegten „delegierten Rechtsakt“ gar nicht vorgesehen. Wäre das Veto des Umwelt- und Gesundheitsausschusses durchgegangen, würde jetzt genau diese Einzelbehandlung im Gesetz ermöglicht, sowohl bei Nutztieren, als auch bei Heimtieren.
Ich habe den Bundesverband praktizierender Tierärzte gefragt, weshalb er die Petition gestartet hat und was ihr Ziel ist. bpt-Präsident Dr. Siegfried Moder sagte: „Wir bitten lediglich darum, das umzusetzen, was die Kommission vorgelegt hat, damit wir weiterhin in eingeschränktem Maße auch mit Reserveantibiotika behandeln können, wo es notwendig ist. Um bestimmte Tiere zu behandeln, brauchen wir Tierärzte Präparate aus vier Wirkstoffklassen, die nach dem Willen des Abgeordneten Häusling ausschließlich der Humanmedizin vorbehalten sein sollen.“ Er spricht von Kaninchen und Reptilien, aber auch von Katzen und Pferden. Dass genau die Einzelbehandlung solcher Heimtiere und auch einzelner Nutztiere mit dem Änderungsvorschlag des Umweltausschusses überhaupt erst ins Gesetz geschrieben werden sollte, das bezeichnet Siegfried Moder als Wunschdenken: „Wenn das so kommen würde, wäre alles gut. Ich halte es aber für äußerst unwahrscheinlich, dass diese Verordnung in der verbleibenden Zeit entsprechend geändert wird. Wenn das nicht geschieht, verlieren diese Präparate Ende Januar ihre Zulassung.“ Interessantes Verständnis von Demokratie. Wenn das Parlament dem Einspruch des Umweltausschusses gefolgt wäre, hätte die Kommission das Gesetz ändern müssen. Auf die erneute Nachfrage, warum die Petition den Heimtierbesitzern und Kleintierpraxen Falsches vorspiegelt, erklärt mir der Tierärztepräsident, dass wir beide wohl gerade aneinander vorbeireden.
Nun gut, dann rede ich mit Martin Häusling weiter. Der Biobauer aus Nordhessen ist grüner Abgeordneter und Berichterstatter des Umweltausschusses im Europaparlament. Er hat den Einspruch für den Ausschuss formuliert. Und er fragt sich gerade, wie die Tierarztlobby darauf kommt, dass eine rasche Gesetzesänderung Wunschdenken sei: „Wir haben in der Pandemie bewiesen, dass wir Gesetze innerhalb von Tagen ändern können, warum sollte das jetzt auf einmal Monate dauern?“
Genauer hinschauen
Der Sachverhalt ist kompliziert, lohnt aber den genaueren Blick, denn nur durch ihn klärt sich, worum es wirklich geht.
Bereits 2019 hatte das EU-Parlament beschlossen, dass die für Menschen überlebenswichtigen Reserveantibiotika aus der Tierhaltung verschwinden sollen. Am 28. Januar nächsten Jahres soll die Tierarzneimittelverordnung (EU Verordnung 2019/6) nun in Kraft treten. Was dazu noch fehlt, sind die Regeln für die Durchführung des Gesetzes. Diese „Kriterien für die Einstufung antimikrobieller Mittel, die für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten sind“ hat die EU-Kommission im Juli vorgeschlagen. Viele im EU-Parlament dürften sich beim Lesen dieses Entwurfs allerdings verwundert die Augen gerieben haben, denn die Formulierungen und Ausnahmeregeln deuten darauf hin, dass sich an der bisherigen Praxis nichts ändern soll.
Entsprechend reagierte die deutsche Bundesärztekammer in einem Brief an die Abgeordneten des Europaparlaments mit der Forderung, die Kriterien zu überarbeiten: „In der bisherigen Form führen sie faktisch dazu, dass der wirtschaftliche Nutzen der betreffenden Antibiotika für die Tierhaltung über die Frage des Schutzes der menschlichen Gesundheit entscheiden kann. Selbst wenn die hohe Bedeutung eines Antibiotikums für die menschliche Gesundheit bereits festgestellt ist und eine signifikante Übertragung der Resistenz vom Tier auf den Menschen als erwiesen angesehen werden kann, ist damit nicht zwangsläufig eine tatsächliche Rückstellung gewährleistet.“ Nebenbei kritisieren die Ärzte auch, dass keine präventiven Maßnahmen ergriffen werden, um den Infektionsdruck in den Massenställen zu vermindern und so den Einsatz von Antibiotika zu verringern. Sprich: Weniger Tiere im Stall!
Die Humanmediziner unterstützen die Änderungsvorschläge, die der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit ins Plenum des Europaparlaments eingebracht hat. Die wichtigsten Änderungen: Die nach einem Katalog der Weltgesundheitsorganisation WHO für die Behandlung von Menschen zu reservierenden Antibiotikagruppen sollen in den Ställen tatsächlich nicht mehr zur Behandlung von ganzen Gruppen von Tieren eingesetzt werden. Dafür dürfen sie aber weiterhin bei individueller Behandlung einzelner Tiere verwendet werden, sowohl in der Landwirtschaft als auch bei Heimtieren. „Natürlich soll das Kaninchen auch weiter mit Reserveantibiotika behandelt werden können“, sagt Martin Häusling, „in Kleintierpraxen werden keine multiresistenten Keime gezüchtet.“
Tonnen von Antibiotika
Die übliche Praxis ist bisher: Wenn in einem Hähnchenstall mit 30.000 Tieren dreißig krank werden, bekommen alle Tiere über das Futter oder über das Trinkwasser ein Antibiotikum. Das wird dann auch gerne mal nach wenigen Tagen abgesetzt und durch ein neues ersetzt, das dann wieder nur ein paar Tage gegeben wird. So werden Resistenzen geradezu gezüchtet, weil immer noch ein paar Keime übrigbleiben, die sich nach und nach an die Medikamente anpassen können. Der vielleicht sogar erwünschte Nebeneffekt: Antibiotika wirken bei gesunden Tieren wachstumsfördernd. Sie sind in der Tiermast eigentlich verboten, und dennoch waren bei Proben der Behörden zum Beispiel in Niedersachsen weit über neunzig Prozent aller Hähnchen in der konventionellen Mast in ihrem kurzen Leben von fünf Wochen teilweise mehrfach mit Antibiotika behandelt worden.
Die Deutsche Umwelthilfe hat, passend zur aktuellen Diskussion, Testkäufe von Putenfleisch bei Aldi und Lidl vom Institut für Pharmazie und Pharmazeutische Mikrobiologie der Universität Greifswald untersuchen lassen. Mit dem Ergebnis, dass jede dritte Probe von Lidl und jede vierte von Aldi mit antibiotikaresistenten Keimen belastet war. Jede Vierte der bei Lidl gekauften Proben war zudem mit den gefürchteten multiresistenten Keimen belastet, gegen die auch Reserveantibiotika nicht mehr helfen. Wer also tatsächlich Putenfleisch aus konventioneller Haltung beim Discounter einkauft, sollte in der Küche eher Schutzkleidung tragen. Was die Testkäufe nebenbei auch zeigen: Auch in der von den Lebensmittelketten festgelegten Haltungsstufe 2 sind die Tiere krank und müssen mit Antibiotika behandelt werden. Die Haltungsstufe 2 ist die mit etwas mehr Platz im Stall und deshalb versehen mit dem Tierwohl-Label. Womit auch geklärt wäre, was dieses Label taugt.
Vor allem in der Hähnchenmast, bei der Putenhaltung und in der konventionellen Schweinemast werden tonnenweise Antibiotika eingesetzt. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit stellt fest, dass 2019 in der Tiermedizin allein in Deutschland 670 Tonnen Antibiotika eingesetzt wurden. Nur zwölf Prozent davon gingen in die Einzelbehandlung, und nur ein Prozent der Antibiotika wurde tatsächlich in Kleintierpraxen den Heimtieren verabreicht; der riesige Rest landete als Zugabe zu Futter und Wasser in den Massenställen.
Mit dieser Praxis sollte der Einspruch des Umweltausschusses jetzt Schluss machen, zumindest für die von der WHO angegebenen Wirkstoffgruppen, die für Menschen reserviert werden sollen. Die Behandlung einzelner Tiere auch mit den Reserveantibiotika sollte aber weiterhin ausdrücklich möglich sein. Damit wollte der Umweltausschuss einen gesetzgeberischen Fehler reparieren, der dem Parlament und der Kommission bei der Neufassung der Tierarzneimittelverordnung 2019 unterlaufen war. Da ist nämlich schlicht gar keine Einzelbehandlung als Ausnahme vorgesehen. Dafür hat die Kommission dann in ihren Durchführungsentwurf jede Menge Ausnahmen für die Massenställe hineingeschrieben. „Das ist das Ergebnis der erfolgreichen Lobbyarbeit der Agrarlobby, der Pharmaindustrie und der Tierarztverbände“, sagt Martin Häusling. Dass die Kleintierpraxen dann keine Reserveantibiotika mehr verwenden dürfen, haben die irregeführten Heimtierhalter mit zu verantworten.
Hintergrundpapier der Deutschen Umwelthilfe zu den Testkäufen von antibiotikabelastetem Putenfleisch: https://www.duh.de/fileadmin/user_upload/download/Pressemitteilungen/Naturschutz/Landwirtschaft/Hintergrundpapier_Putenfleischproben_final_01.pdf