„Du dummes Huhn!“ schimpfen wir – und wenn dieser Spruch hier steht, ahnen alle schon, dass er nicht stimmt. Hühner sind neugierig und lernen sehr schnell. Sie reden miteinander, halten in ihrer Gruppe ständig auch akustisch Kontakt. Sie sind soziale Tiere, trotz der sprichwörtlichen Hackordnung. Die Beleidigung als dummes Huhn zeigt auch, dass wir wenig wissen über das Wesen unserer Hühner. Oder auch nur, dass wir wenig wissen wollen.
Die Haushühner sind bestens erforschte Nutztiere. Das gilt nur leider nicht für ihr Verhalten und ihre sozialen Bedürfnisse, sondern eher physiologisch. Wie viel Rohprotein, wie viel der Aminosäuren Methionin, Zystin und Lysin, wie viel Zucker, Calcium, Phosphor, Natrium ein Huhn in welcher Lebensphase für das optimale Wachstum braucht, das ist bestens bekannt. Auch wie die Temperatur im Stall sein sollte und wie lange dort das Licht brennen muss, damit die Tiere möglichst schnell zunehmen, kann man im Lehrbuch nachlesen. Ebenso wie die Eierproduktion der Legehennen auf optimalem Level gehalten werden kann, wie wir sie mit Licht betrügen müssen, damit sie in der dunklen Jahreszeit legen. Das alles wissen wir. Nur wie wir es anstellen können, dass es den Tieren auch gut geht beim Wachsen und Eierlegen, das kümmert uns weniger.
Kluges Huhn
Wie unsere Haushühner picken und ticken, das lässt sich sehr gut beobachten, wenn man das Glück hat, selbst eine Hühnerhaltung in der Nähe zu haben. Nicht etwa eine Mastanlage oder ein industrielle Eierproduktion, das wäre eine eher zu meidende Nachbarschaft. Eine kleine private Hühnerhaltung, so wie die meines Nachbarn, ist ein guter Ort für Verhaltensstudien: zehn Hennen, ein Hahn.
Von einem professionellen Geflügelhalter habe ich gelernt, dass man anklopft, bevor man die Tür zum Hühnerstall öffnet. Also klopfe ich morgens leise an die Holztür zum Hühnerhaus. Hühner sind schreckhafte Tiere, sie sollen meine Annäherung hören. Dann öffne ich die Tür und greife langsam zu dem Seilzug, der den Schlag öffnet und den Weg nach draußen freimacht. Die Hühner quittieren das mit einem zufriedenen Gurren und die ersten Hennen gehen hinaus. Das ist der Moment, in dem der Hahn seine Stimme hören lässt: mit einem dunklen Grollen. So interpretiere ich das, denn er ruft die Hennen zurück. Sie bleiben tatsächlich stehen und warten, bis er herausgekommen ist und geschaut hat, ob die Luft rein ist. Rein von Greifvögeln. Ebenso der Boden. Er steht und schaut sich um, während die Hennen herauskommen und sofort mit Scharren und Picken beginnen. Der Hahn ist zuständig für die Sicherheit. Nicht von ungefähr ragen meist die Köpfe der Hähne aus den Hühnergruppen heraus.
Der Hahn in der kleinen Hühnergruppe bei meinem Nachbarn nimmt seine Aufgabe sehr ernst. Er kann regelrecht zum Draufgänger werden und sein Leben riskieren. Neulich, während jenes kurzen Wintereinbruchs, als plötzlich alles unter Schnee lag und die Raubvögel keine Mäuse mehr jagen konnten, hat ein Habicht den Hühnerhof heimgesucht. Und das, obwohl die Hühner dort unter Bäumen hausen, die eigentlich Schutz bieten gegen Angriffe von oben. Davon lassen sich aber nur Bussarde und Weihen abhalten, Habichte und Sperber stürzen sich durch die Äste auf ihre Beute. Und der Hahn stürzte sich dann offenbar auf den Angreifer. Davon zeugten danach seine Verletzungen an der Brust. Gegen den Habicht hatte Hans-Hermann, so heißt der Hahne, keine Chance. Obgleich er ein stattliches, schweres Tier einer alten Haustierrasse ist. Wahrscheinlich hat er es auch nur versucht, weil er schon einmal Erfolg mit solch einer waghalsigen Aktion hatte. Damals hatte er tatsächlich einen Sperber „erlegt“. Allerdings auch ein ungleich kleinerer und schwächerer Beutegreifer als ein Habicht.
Von wegen „dummes Huhn“: Hühner erinnern sich sehr gut an gemachte Erfahrungen. Sie lernen daraus. Der Hahn wusste noch, das er schon einmal einen Raubvogel besiegt hatte. Und nach seinem Scheitern beim zweiten Versuch, wusste er, dass der Gegner wiederkommen könnte. Das war auch so. Jeden Morgen überflog der Habicht den Hühnerhof. So dass wir Menschen entschieden, das Hühnerhaus immer erst um zehn Uhr zu öffnen, wenn der patrouillierende Habicht vorüber war. Das half den Hühnern aber nicht.
In den auf den tödlichen Angriff folgenden Tagen ging keines der Hühner ins Freie. Sie waren traumatisiert von dem blutigen Anblick ihrer gemetzelten Gefährtin. Sie ließen sich mit Gemüseresten und Krabbenschalen gerade mal einen Meter vors Hühnerhaus locken und verschwanden wieder darin, sobald alle Leckerbissen verzehrt waren. Es dauerte viele Tage, bis sie wieder wie gewohnt im Gelände unterwegs waren. Anfangs kamen sie nur heraus, wenn einer der menschlichen Beschützer in der Nähe war. Hans-Hermann hatte es ja schließlich nicht vermocht, sie zu schützen. Wenngleich sich nach dem Habichtangriff alle übrig gebliebenen Hennen in einer Ecke des Geheges hinter dem Hahn versteckten, der fürsorglich seine Flügel vor ihnen ausbreitete.
Nie ohne Hahn
Auf manchem privaten oder kleinbäuerlichen Hühnerhof gibt es heute keinen Hahn mehr. Denn Hähne krähen ja bekanntlich, und das wird von den Nachbarn gerne mal als Ruhestörung empfunden. Selbst auf dem Land wurde schon gegen das Krähen prozessiert. Ein Hühnerhof ohne Hahn ist aber keine gute Idee. Das nun wiederum wissen die professionellen Hühnerhalter am besten. „Die Hähne strukturieren den Hennen den Tag“, sagt Carsten Bauck vom Bauckhof in Klein-Süstedt, „vom Weckruf bis zum Schlafengehen.“ Deshalb hält er auch bei seinen Legehennen immer Hähne, auch wenn die nur fressen und kein einziges Ei legen. Die Hähne aber halten auch in großen Hühnergruppe „ihre“ Hennen beisammen und sorgen dafür, dass möglichst kein Streit ausbricht. Die Hackordnung muss nicht jeden Tag neu ausgefochten werden. In reiner Hennenhaltung ist häufiger Streit angesagt. Entsprechend sehen die Tiere dann auch gerne mal aus. Denn das Hacken kann blutig werden.
Ohne die Hähne gäbe es in der landwirtschaftlichen Freilandhaltung auch deutlich mehr Verluste durch Greifvögel. Auf ihren Warnschrei hin – ein hohes, hartes Girren – suchen die Hennen Schutz unter Bäumen oder den draußen aufgestellten niedrigen Tunneln aus Tarngeflecht, oder sie flüchten in den Stall. Sie hören auch am Ton des Warnrufs, ob der Feind aus der Luft kommt oder sich am Boden anschleicht und es klüger ist, auf eine Sitzstange oder einen Ast zu fliegen.
Vor allem im Freiland können die Hähne auch Futter suchen für ihre Hennen. Das ist eines ihrer typischen Verhaltensmuster: Sie gehen aktiv auf die Suche nach Leckerbissen, die sie dann mit den Hennen teilen. Draußen ist das vor allem tierische Nahrung, Getreideschrot und Körnerfutter gibt es im Stall genug. Da Hühner aber keine reinen Pflanzenfresser sind, sondern Omnivore, also Allesfresser wie Schwein und Mensch, fehlen oft die tierischen Eiweiße. Deshalb hat ein Hahn, der Schnecken findet und Würmer, Insekten oder gerne auch mal eine Maus, einen guten Stand bei seinen Hennen. Den Fund zeigt der Hahn den Hennen optisch an, indem er große Pickbewegungen ausführt und dabei mit seinem roten Kehlsack und dem großen Kamm wackelt; die akustische Meldung ist ein lautes Kollern.
Hähne sind übrigens alles andere als selbstsüchtig. Sie sorgen nicht zuerst für sich. Sie zeigen, wo es etwas Leckeres zu fressen gibt und warten dann geduldig ab, bis jede Henne etwas abbekommen hat. Erst das, was dann noch übrig ist, holt sich der Hahn. Die Gockel unter den Menschen gehen eher umgekehrt vor.