Motor der Verschwendung

Was kommt in den Einkaufswagen? Was in den Müllcontainer? Darüber entscheidet meist das Mindesthaltbarkeitsdatum, obwohl das nichts darüber aussagt, ob Lebensmittel noch genießbar sind. | Foto: Tumisu

Achtzehn Millionen Tonnen Lebensmittel werfen wir weg, jedes Jahr, allein in Deutschland. Das ist fast ein Drittel des gesamten Lebensmittelverbrauchs. Etwas mehr als die Hälfte der Vernichtung geht auf das Konto der Privathaushalte. Und einer der Treiber des Wegwerfens ist das Mindesthaltbarkeitsdatum, das auf jedem Lebensmittel in der Europäischen Union angegeben sein muss. Dieses Datum ist aber keineswegs genau vorgeschrieben. Es muss da etwas stehen, aber was genau dort steht, entscheiden die Hersteller und der Handel.

Das Mindesthaltbarkeitsdatum MHD beweist: Es geht auch ohne genaue Vorschrift, ohne Kontrolle und ohne wissenschaftliche Grundlage. Die Hersteller drucken ein Datum auf die Verpackung, das war’s. Niemand setzt die Kriterien fest, niemand macht Vorgaben, niemand prüft die Plausibilität. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist quasi eine Vorschrift ohne Durchführungsverordnung, ein Gesetz ohne Basis, aber mit desaströsen Folgen. Es ist, sagt die Deutsche Umwelthilfe DUH, der „Motor der Verschwendung“! Und wir alle können dagegen etwas tun, denn bis zum 3. März nimmt die EU noch Vorschläge zur Umstellung dieses Motors auf Umweltfreundlichkeit an.

Die Zeit des Mindesthaltbarkeitsdatums …

Es war einmal mehr das schon legendäre Kalahari Salz, das mich auf das Thema brachte. Fotos einer Salzpackung geisterten vor kurzem durch Twitter, so wie schon Jahre zuvor immer wieder. Vorne drauf steht: 280 Millionen Jahre altes Kalahari Salz. Das scheint ein gutes Verkaufsargument zu sein, denn das Salz wird zu einem stolzen Preis vermarktet, so wie auch Himalaya Salz. Dabei handelt es sich jeweils schlicht um Natriumchlorid mit ein paar weiteren Mineralien, deren Geschmack übrigens verloren geht, wenn man es zum Kochen benutzt. Das ist aber nicht der Witz dieses Salzes. Hintendrauf nämlich steht – wie bei jedem Lebensmittel in der EU, das Haltbarkeitsdatum: 2023. Vorne 280 Millionen Jahre, hinten nur noch eines mehr. Man könnte noch anmerken, dass das Salz durchaus älter ist als 280 Millionen Jahre, da es im Meerwasser gelöst war, bevor es sich in der heutigen südafrikanischen Wüste ablagerte. Das macht den Unsinn des Mindesthaltbarkeitsdatums auf Packungen mit naturbelassenem Salz aber auch nicht mehr wesentlich größer.

Auch Honiggläser sind bei uns mit einem Haltbarkeitsdatum versehen, obwohl Honig eigentlich unbegrenzt haltbar ist. Die legendäre Geschichte vom Honig als Grabbeigabe der Pharaonen habe ich tatsächlich mal persönlich erfahren können. Der Grabungsleiter des Deutschen Archäologischen Instituts im ägyptischen Luxor erzählte mir, sie hätten in der Grabkammer eines Honoratioren in einer vergleichsweise winzigen Pyramide Honig gefunden, der vom Labor als durchaus genießbar eingestuft wurde. Alter: 3500 Jahre. Vom Honigglas in meinem Küchenschrank habe ich das Label abgerissen. Ich will es aber nicht ins Grab mitnehmen.

Der „Motor der Verschwendung“ von Lebensmitteln muss dringend reformiert werden, sagt Peer Cyriacks von der Deutschen Umwelthilfe. Die Zeit des Mindesthaltbarkeitsdatums ist abgelaufen. | Foto: S. Wieland

Also was soll das mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum? Warum befeuern wir mit unnützen Verfallsdaten den Wegwerfwahn? Was soll sein mit den Nudeln, wenn sie drüber sind? Was mit dem Zucker, dem Kandis, dem Salz? Was mit dem Zwieback, dem Knäckebrot? Sind die nicht produziert worden, um haltbar zu bleiben? Es gibt verderbliche Lebensmittel, ohne Frage. Bei denen brauchen wir Klarheit, bis wann sie für uns Lebensmittel sind. Bei fast unbegrenzt haltbaren Lebensmitteln wird die Kennzeichnung aber zur Lebensmittelvernichtung. Und nicht nur bei denen. In meinem Kühlschrank hält sich Joghurt gerne mal einen Monat länger, als da draufgedruckt ist. Sollte das in anderen Kühlschränken anders sein?

„Die Briten haben das deutlich besser geregelt, als wir“, stellt der Biologe Peer Cyriacks von der Deutschen Umwelthilfe fest. Bei denen steht auf den Lebensmittelverpackungen schlicht „Best before …“ Bei uns dagegen suggeriert schon das Wort Mindesthaltbarkeit, dass nach diesem Datum das Lebensmittel seine Haltbarkeit überschritten hat, also ungenießbar geworden sei. Germanisten dürften die Zuschreibung des Adjektivs „mindestens“ als Grenze eher grenzwertig finden, aber so wird es nun mal gelesen, Duden hin oder her. Hinter „mindestens“ geht es für uns Verbraucherinnen und Verbraucher offenbar nicht weiter, und schon gar nicht für die Lageristen in den Supermärkten.

… ist abgelaufen!

Beim Festlegen des Mindesthaltbarkeitsdatums geht es den Herstellern wohl häufig gar nicht um die Haltbarkeit des Lebensmittels. Es geht um eine Art von Qualitätsmanagement. Bis zum aufgedruckten Datum schmeckt der Joghurt so, wie der Hersteller sich das gedacht hat. Danach erlischt diese Geschmacksgarantie – und nur die. Das macht den Joghurt aber nicht von einem auf den anderen Tag zur Gefahr. „Das Mindesthaltbarkeitsdatum wird von den Verbraucherinnen und Verbrauchern oft als Verfallsdatum missverstanden“, sagt Peer Cyriacks. „Aber anders als beim Hackfleisch, wo steht: ‚Zu verbrauchen bis …‘, denn danach wird’s gefährdend, ist ein Mindesthaltbarkeitsdatum eine unverbindliche Empfehlung, die von den Herstellern festgelegt wird. Und das nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach Gusto. Es gibt keine harten Fakten und Vorschriften, nach denen die Hersteller das Mindesthaltbarkeitsdatum festlegen.“

Die Deutsche Umwelthilfe hat sich ein Rechtsgutachten erarbeiten lassen, das immerhin feststellt, dass eine Umformulierung des Begriffs in der EU möglich wäre. Peer Cyriacks gibt zu, dass eine griffige deutsche Formulierung für das englische „Best before“ noch nicht gefunden sei, aber die Anwälte haben immerhin gesagt, so etwas wie „mindestens haltbar bis, aber nicht schlecht nach …“ wäre rechtlich unbedenklich. Vielleicht möchte das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ja mal einen Wettbewerb ausloben, um die geeignete Formulierung zu finden. Vorschläge zur Umgestaltung nimmt die EU wie gesagt noch bis zum 3. März via Internet in einer Online-Konsultation an.

„Einfach wird das nicht“, sagt der Europaabgeordnete und Biobauer Martin Häusling. „Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist Teil des Paketes Farm to Fork, also des Green Deals der EU, und da prallen Welten aufeinander. Die Welten der Hygieneverordner und der Menschen, die Lebensmittelverschwendung verhindern wollen, liegen weit auseinander, und die der Hersteller und Händler dazwischen. Und dann gibt es da noch die Juristen. Das ist ein vermintes Gelände, wie ich selbst lernen musste.“

Wer in Brüssel die Reform des Mindesthaltbarkeitsdatums angehen will, begibt sich auf „vermintes Gelände“, sagt der grüne Europaabgeordnete Martin Häusling.

Die europäische Hygieneverordnung sei mit jedem Lebensmittel­skandal strenger geworden, was er als Direktvermarkter auf seinem Biohof in Nordhessen selbst ständig zu spüren bekommt. Stetiges Nachrüsten ist angesagt. Das Gemüse, die Milch und der Käse sind danach aber immer noch dieselben wie zuvor. Sie unterliegen nur strengeren Vorschriften. Und da ist das Mindesthaltbarkeitsdatum ein leichter Ausweg aus der Kontrollitis. Was drunter ist, gilt als gut, was drüber ist, fliegt raus, egal wie gut es ist. „Die Hygieneverordnung zielt darauf, Risiko zu verringern. Motto: Es darf keiner krank werden von Nahrungsmitteln aus dem Handel. Deshalb lieber eher wegwerfen, als es auf den Tisch kommen lassen. Weil sich heute viele Menschen mit Lebensmitteln eigentlich nicht mehr auskennen und nicht selbst einschätzen können, was noch essbar ist, wird stur nach Datum aussortiert.“

Das nächste Problem ist das juristische, sagt Martin Häusling: Die Haftung. „Wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, dann haftet der Händler, der die Lebensmittel dennoch verkauft oder auch nur verschenkt. Die Haftung des Herstellers ist erloschen. Der Händler hat Sachen in Verkehr gebracht, die eventuell gesundheitsschädlich sind. Ob sie es wirklich sind, ist eine ganz andere Frage. Die steht hier gar nicht zur Diskussion. Deshalb schmeißen wir gerade in Deutschland lieber weg, als das Risiko einzugehen, da könnte jemand krank werden.“ Jemand, der natürlich gar nicht selbst entscheiden kann, was er isst und was nicht. Der unmündige Verbraucher.

Wegwerfen als Warenmanagement

Peer Cyriacks von der deutschen Umwelthilfe erzählt noch mehr Hintergründiges. Nach den Recherchen der DUH benutzen die Lebensmittelketten das Mindesthaltbarkeitsdatum auch als eine Art Warenmanagementsystem. Er macht es an einem Beispiel fest: „Die Molkerei stellt sagen wir zehntausend Joghurts her, und die werden dann aufgesplittet in drei Chargen. Die erste Charge hat ein Mindesthaltbarkeitsdatum von drei Wochen, die zweite von sechs Wochen und die dritte von neun Wochen. Das ist derselbe Joghurt, der zur selben Zeit produziert wurde. Um aber die Mitarbeiter im Supermarkt zu instruieren, den regelmäßig im Regal zu ersetzen, weil die Kunden auf das Mindesthaltbarkeitsdatum trainiert wurden, setzt man halt verschiedene Daten für dasselbe Produkt.“  In Gesprächen mit Vertretern der Lebensmittelketten hat die Deutsche Umwelthilfe diese Praxis angesprochen – und ihr wurde nicht widersprochen. Auch eine Form der Bestätigung.

Wenn die Lebensmittel nicht so billig wären in Deutschland, wäre diese Praxis sicher nicht so weit verbreitet. Das sagt nicht nur Peer Cyriacks. „Schließlich hat der Lebensmittelhandel die Produkte ja bezahlt, bevor er sie wegwirft“, sagt auch Martin Häusling: „Wenn die Milch nicht fünfzig Cent kosten würde, sondern 1,50 Euro, dann wäre es wohl eine Überlegung wert, sie noch im Regal stehen zu lassen, obwohl das Mindesthaltbarkeitsdatum in drei Tagen abläuft.“ Und wenn wir Verbraucherinnen und Verbraucher vielleicht mal wieder auf das Lebensmittel selbst schauen würden, statt auf das Datum, dann wäre auch schon viel gerettet.


DUH-Papier: Rezepte gegen die Lebensmittelverschwendung