Die Ökolandwirtschaft erkauft wenig Umweltschutz mit sehr viel Ertragsverlust. Deshalb braucht der Biolandbau viel mehr Fläche, wenn er die gleiche Menge Lebensmittel erzeugen soll wie die konventionelle Landwirtschaft. Das ist die Geschichte, die sich jeder Biobauer und jede Biobäuerin schon vielfach anhören musste. Und auch ich habe sie schon öfter gehört, als ich sie hören wollte. Das ist „der Narrativ des Agrarindustriellen Komplexes“, sagt der Agrarwissenschaftler Friedhelm Taube. Vor zehn Jahren hat er sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen von der Universität Kiel aufgemacht, um dieser Erzählung etwas entgegenzusetzen und den dritten Weg zu suchen – den Weg zu einer effizienten Ökolandwirtschaft, die gleichzeitig Klima- und Naturschutz ist.
Jetzt ist dieser dritte Weg gefunden und wissenschaftlich beschrieben: Und er ist gleichzeitig der Weg zu mehr Tierwohl. Er führt auf die Weide. Auf dem Lindhof, einem im Dörfchen Lindhöft an der Ostsee gelegenen landwirtschaftlichen Versuchsbetrieb der Agrar- und Ernährungswissenschaftlichen Fakultät der Kieler Christian-Albrechts-Universität, wurde das Projekt „Ökoeffiziente Weidemilcherzeugung“ umgesetzt. Was zu beweisen war: Dass es möglich ist, Milchviehhaltung, Klima- und Naturschutz in Einklang zu bringen. Was bewiesen wurde ist sogar mehr: Der Weg zur umweltfreundlichen und gleichzeitig effizienten Milchwirtschaft führt auf die Weide und damit zu mehr Humusaufbau und Biodiversität. Ein Nachmachmodell für die Agrarwende.
Weidegang im Winter
Selbst jetzt noch, im Winter, gehen die Kühe des Versuchsgutes Lindhof auf die Weide. Nicht mehr den ganzen Tag und die ganze Nacht, wie im Sommer, aber immer für ein paar Stunden, wenn das Wetter es zulässt. Auf dem Weg dorthin waten sie durch schlammige Pfade, auf den Weideflächen selbst aber gibt es keine schwarzen Schlammlöcher. Das liegt auch daran, dass Prof. Friedhelm Taube und seine Kolleginnen und Kollegen die „richtigen“ Kühe ausgesucht haben: siebzig Kühe der Rasse Jersey, dazu einige irische Kreuzungen und ein paar Angler, eine alte Rasse aus Schleswig-Holstein. Hundert Milchkühe insgesamt bilden die Herde des Lindhofs. Allesamt sind sie deutlich kleiner und leichter als die schweren Hochleistungskühe der europäisch-amerikanischen Zuchtlinie Holstein-Friesian, die auch deshalb zumeist im Stall stehen. Siebenhundert Kilo kann eine Holstein-Friesian auf die Waage bringen, die Jersey dagegen wiegen kaum über vierhundert. Und geben dabei – Achtung – auf dem Lindhof auch noch mehr Milch pro Kilo Lebendgewicht. Und das bei deutlich besserer Futterverwertung.
Die Holstein-Friesian-Hochleistungskühe würden bei feuchtem Wetter mit ihrem schweren Tritt die Weiden zerstören, und sie würden dort nicht einmal satt. Sie geben so viel Milch, dass man ihnen das Futter passgenau vors Maul tragen muss, erklärt Friedhelm Taube. Wir haben sie so hochgezüchtet, dass Weidegras und Klee ihnen einfach nicht genug Energie liefern. Selbst im Stall, wo sie zusätzlich konzentriertes Kraftfutter erhalten, werden sie nicht wirklich satt. In den ersten hundert Tagen der Laktation, also in der erhöhten Produktionsphase nach der Geburt eines Kalbs, geben sie so viel Milch, dass sie für deren Produktion die körpereigenen Reserven angreifen müssen. Sie leben also von der Substanz. Das macht sie anfällig und letztlich krank. Mit ein Grund dafür, dass sie meist nur ein kurzes Leben haben. Diese Kühe können aber auch nicht einfach weniger Milch geben. Die Züchter haben die Hochleistung in ihren Genen festgelegt.
Fast zwei Jahre lang müssen sie gefüttert werden, bevor sie das erste Kalb bekommen und die erste Milch geben. „In dieser Zeit produzieren sie nur Kosten und Treibhausgase,“, sagt Friedhelm Taube. Und danach werden sie in kurzer Zeit so sehr ausgelaugt, dass sie oft nur vier oder fünf Jahre alt werden. Dann sind sie krank und müssen geschlachtet werden; oder sie werden aussortiert, weil ihr Körper sich weigert, noch einmal schwanger zu werden. Eine Milchkuh, die keine Milch gibt, weil sie kein Kalb bekommt, ist für einen Milchviehbetrieb nicht tragbar. Und das ganze System ist deshalb ineffektiv, weil es die Tiere auslaugt, so sagt es der Spezialist für die Weidehaltung von der Uni Kiel. Auch die Böden werden ausgelaugt, auf denen nur noch intensiv Futter angebaut wird. Ganz zu schweigen von der Biodiversität, die längst nicht mehr existiert, wo nur noch Mais und Mähgras wachsen.
Klee, Kräuter, Gras
Das Weidesystem, das Friedhelm Taube und seine Kolleginnen und Kollegen mit ihren Milchkühen entwickelt haben, ist das krasse Gegenteil des vorherrschenden konventionellen Milchproduktionssystems. Bei dem werden die Kühe meist im Stall gehalten. Draußen wird Futter angebaut und mit viel Energieaufwand ihnen in die Ställe zugeführt. Was dann noch an Energiezufuhr fehlt, wird zugekauft. Was auf den landwirtschaftlichen Flächen fehlt, wird mit Gülle und Kunstdünger aufgefüllt. Was dort zu viel ist, wird mit Chemie weggespritzt.
Auf dem Lindhof wird nichts importiert, nichts künstlich gedüngt, nichts weggespritzt. Und dennoch ist die Weidehaltung kostengünstiger als die Stallhaltung der Hochleistungskühe.
Die Weideforscher haben ein System entwickelt, das ihre Kühe das ganze Jahr über ernährt und sie fast das ganze Jahr über draußen hält. „Rinder sind Steppentiere“, sagt Friedhelm Taube, „sie gehören nach draußen!“ Die Kühe vom Lindhof sind – Ganztagsweide im Sommer und Halbtags- und stundenweisen Weidegang im Winter zusammengerechnet – gut zweihundert Tage im Jahr draußen. Wo sie hingehören. „Jetzt im Winter“, sagt der Professor für Ökolandbau, „entscheiden die Kühe, ob und wann sie noch raus wollen.“ Wobei sie auch im Stall eigentlich draußen sind, denn der hat nur eine halbe Überdachung und offene Seiten. Aber: jeder Tag auf der Weide spart zwei Euro Futterkosten pro Kuh. Wobei dies nur die Kosten für selbst angebautes und geerntetes Futter sind, ohne teuren Zukauf.
Der Schlüssel zum Weidesystem des Lindhofs ist die Bepflanzung der Weiden – das Kleegras. Das ist in der Zusammensetzung eine Eigenentwicklung der Grasforscher. Da werden zwei Kleearten eingesetzt, mehrere Grasarten und verschiedene Kräuter. Dann werden die Weideflächen in große Parzellen aufgeteilt und in jeder Koppel das Wachstum der Kleegrasmischung überwacht. Hat die Weide das optimale Wachstumsstadium erreicht, dürfen die Kühe zum Ernten kommen, und zum Düngen. Weidegras hat sich in Koevolution mit den Weidetieren so entwickelt, dass es durch den Biss der Tiere zum Wachsen angeregt wird. Dafür lässt der Weidemanager dem Kleegras dann auch Zeit. Nach relativ kurzem Aufenthalt werden die Kühe zur nächsten Koppel geleitet, die dann im optimalen Wuchsstadium ist. Für die Überwachung entwickelt die Uni Kiel gerade die passende App.
Unter einem Quadratmeter Weidefläche ranken bei einem solch ausgeklügelten System von Nutzung und Ruhezeiten dann rund hundert Kilometer Wurzeln. Die sorgen dafür, dass die Nährstoffe, die aus dem Rinderdung von oben kommen, im Oberboden gehalten werden und für die Pflanzen verfügbar. Außerdem halten die Wurzeln das Wasser für trockene Zeiten und der Klee holt den Stickstoff aus der Luft und macht ihn im Boden verfügbar. Es braucht keinen zusätzlichen Dünger. Und die Kräuter in der Mischung schaffen blühende Wiesen, trotz des intensiven Weidegangs der Kühe. Der Lindhof ist dadurch eine Insekten- und Vogelinsel geworden, in der ansonsten intensiv bewirtschafteten Agrarsteppe der Ackerlandwirtschaft an der Ostsee bei Eckernförde.
Gretchenfrage Methan
Auch die Frage nach den Möglichkeiten einer methanarmen Rinderhaltung hat das Projekt des Versuchsgutes beantwortet: Die Kuh muss kein Klimakiller sein. Die Arbeit einer aus Uruguay stammenden Doktorandin hat nachgewiesen, dass die Weidetiere vom Lindhof um die Hälfte weniger des hochwirksamen Treibhausgases ausstoßen als die Kühe im Stall – pro Liter Milch wohlgemerkt, nicht pro Kilogramm Kuh. Die Gesamtbilanz des Weideprojekts dürfte sogar klimapositiv sein. Gemessen wurde auf dem Lindhof mit einer aufwendigen Methode direkt am Maul der Kuh. Doktorandin Cecilia Loza verpasste den Kühen dazu einen Bauchgurt und eine Atemluft-Absaugeinrichtung über der Nase.
Wenn Milchviehbetriebe in Zukunft so wirtschaften, wie das in Lindhöft entwickelt wurde, und die Gesamtbilanz bei einem geplanten CO2-Preis von sechzig Euro im Jahr 2030 berechnet wird, müssten die Betriebe jedes Jahr eine Klimagutschrift von mehreren tausend Euro erhalten, erklärt Friedhelm Taube, während die Stallhalter von Hochleistungskühen zahlen müssten. Vorausgesetzt, die Landwirtschaft wird in die künftige CO2-Bepreisung einbezogen, was sich die künftige Bundesregierung trauen müsste. Die Milchwirtschaft scheint sich auf ein solches System schon vorzubereiten. Die größte Molkerei der Niederlande jedenfalls teilt ihren Kunden schon heute prophylaktisch mit, wie sie den klimawirksamen Carbon Footprint der gelieferten Milch je nach Wirtschaftsweise einschätzt. Am schlechtesten schneidet dabei Milchvieh ab, dessen Futter von trockengelegten Moorböden stammt. Denn die ehemaligen Moore gasen über Jahrzehnte den in den Böden gespeicherten Kohlenstoff als CO2 aus.
Berechnen können die Forscherinnen und Forscher aus Kiel den Carbon Footprint, den Kohlenstofffußabdruck der Landwirtschaft inzwischen auf den Euro genau. Das von ihnen entwickelte Weidesystem würde, so bepreist, einen deutlichen Zusatzgewinn für die Landwirtschaft erzeugen. Und es wäre, nein, es ist eine Blaupause für die Agrarwende auf der Weide. „Die Landwirte sollen auf dem Weg zur Klimaneutralität im Rahmen des Umbaus der Nutztierhaltung unterstützt werden“, steht im Koalitionsvertrag der deutschen Ampel-Regierung. Nun denn.
Hatten wir Verbraucherinnen und Verbraucher nicht immer gesagt und gefordert, dass Tierwohl und artgerechte Haltung nur funktioniert, wenn die Ställe aufgemacht werden? Na gut, sagen wir, die für diese Sache Engagierten unter uns … Hier ist die Methode, wie das geht – und das auch noch mit Gewinn: für die Landwirtschaft, das Klima und die Biodiversität. Übrigens: weder die Milch, noch der Käse oder das Rindfleisch werden dadurch tatsächlich teurer, gesamtgesellschaftlich in der Bilanz. Die Lindhof-Methode ist die für die Gesellschaft kostengünstigere Variante gegenüber der derzeit marktüblichen Methode der Erzeugung von Billigmilch, Tierleid und Wegwerfkühen.
Und das auf dem Lindhof entwickelte Weidesystem kann noch viel mehr. Gerade erforscht die Universität Kiel, wie man mit Kleegras und der Zusammenarbeit von Betrieben der Milchwirtschaft und des Ackerbaus eine Ökologisierung auch der konventionellen Landwirtschaft erreichen kann. Dazu demnächst mehr, wenn es hier um die Hybridlandwirtschaft geht.
Mehr Infos und Erklärungen auf die Ohren: Der Podcast zum Blog
Cecilia Loza et. al.: Wissenschaftliche Veröffentlichung zu den Methan-Emissionen der Milchproduktion auf dem Lindhof
Thorsten Reinsch et. al.: Wissenschaftlicher Vergleich der Ökobilanz von intensiver und sogenannter integrierter Milchviehhaltung